Flieg dahin, kleiner Cyborg, und mähe den Rasen
Rätselhaft erscheint der Titel dieses Festivals: You’re A Cyborg But That’s Ok– what does that mean? Wendet es sich an uns, die wir glauben, als wahre Menschen durchzugehen? Vielleicht an diejenigen von uns, die schon repariert wurden, mit Herzschrittmacher, künstlicher Niere, Hüfte und Hightech-Rolli? Schließlich versteht man unter Cyborg laut Wikipedia „ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine“, Menschen, „deren Körper dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden“. Mit Herzschrittmachern und komplexen künstlichen Prothesen liegen wir schon gar nicht so falsch, aber lesen Sie mal weiter, was Wikipedia und andere so schreiben – es wird irgendwann ziemlich abstrus. Und ist doch auch Wissenschaft.
Und Kunst. Aber Kunst für Kinder? Zum Auftakt des Festivals hat das tanzhaus nrw die belgische Truppe Busy Rocks des Bildenden Künstlers und Choreographen Tuur Marinus eingeladen, um zwei halbstündige kleine Stücke im Rahmen des Jugend-Programms vorzuführen. Man staunt – und weiß eine gute Stunde später: Nichts könnte einem den Begriff des Cyborgs besser nahebringen als diese beiden kleinen Performances. Und man hat gelernt: Cyborgs können auch sehr poetisch sein.
Bei Still Animals hat Tuur Marinus versucht, die Bilder des berühmten Fotografen Eadweard Muybridge zum Leben zu erwecken. Ead who …? – Eadweard Muybridge lebte von 1830 – 1904 zunächst in England, später in den USA und starb, wo er geboren war: im britischen Kingston upon Thames. Er hat übrigens einmal einen Theaterkritiker umgebracht, aber damals waren noch paradiesische Zeiten: Das galt als lässliche Sünde. Nicht wegen der schlechten Theaterkritiken, sondern weil der Herr etwas mit Eadweards Frau hatte – weird, isn’t it? Jedenfalls wurde Muybridge freigesprochen, und er konnte sich weiterhin den wesentlichen Dingen des Lebens widmen: der Fotografie. Das war in den 50er, 60er Jahren des 19. Jahrhunderts: Muybridge war ein Pionier der Fototechnik und einer der frühesten Vertreter der Chronofotografie. Er liebte nicht nur seine Frau, sondern auch Tiere - ganz platonisch selbstverständlich. Als Muybridge im Jahre 1872 den Auftrag erhielt, die exakte Beinstellung eines galoppierenden Pferdes zu untersuchen, war der erste Schritt zu Tuur Marinus 150 Jahre jüngerer Kinder- und Jugend-Choreographie getan: Eadweard schrieb Serienbriefe mit seiner Kamera. Zwölf, vierundzwanzig, sechsunddreißig Kameras baute er auf, die sukzessive alle Zehntel- oder Hundertstel-Sekunde ein Bild machten. Das war irgendwie auch die Geburtsstunde des Animationsfilms. Mit dem Filmen war man damals ja noch nicht so weit, aber man erhielt Serienbilder, die genaue Bewegungsabläufe dokumentierten.
Die Dinger liegen jetzt irgendwo rum, in Museen, in dicken Alben. Auf der documenta hat man sie auch schon gesehen – fast vierzig Jahre ist das jetzt her. Die Bilder haben Tuur Marinus inspiriert. In Still Animals fliegen Tauben durch den Raum, Raubkatzen setzen zum Sprung an, und irgendwann erstarrt auch mal ein menschliches Tier zur Paavo-Nurmi-Pose, zum steinernen Denkmal eines verdienten Helden des Sports. Ganz feierlich geht das vonstatten: langsam, poetisch und ohne jede Musik. Als eine Tänzerin ein einziges Mal das dem guten alten Paavo gemäße Siegerlächeln hervorzaubert, glauben wir eher an ein Versehen. Die Bilder werden eher zelebriert als gefeiert – ihre Herstellung erfordert ungeheure Kraft und Konzentration. In Zeitlupe und mit fast unmenschlicher Körperspannung tragen in tänzerischen Verrenkungen erstarrte oder sich langsam bewegende Performer einen dritten Tänzer, der elegant dahinfliegt oder zum Sprung ansetzt. Die Träger bleiben im Dreivierteldunkel oder auch nahezu unsichtbar, während das „Tier“ in ein warmes Licht getaucht ist. Wie bei Muybridges Fotoserien kann der Zuschauer in der sich wiederholenden, zeitlupenartigen Bewegung alle Phasen der Körperstellung und der Muskelanspannungen beobachten. Dadurch, dass die Träger vage sichtbar bleiben, erleben die Kinder im Publikum zudem das Entstehen von menschlichen Skulpturen und die Grundprinzipien einer Choreographie – und sie sehen wahre Cyborgs: Mensch-Tier-Maschinen, mit in technischer Perfektion agierenden menschlichen Stützpfeilern und Tierdarstellern.
Die gesamte Performance ist, was das Leben leider nicht ist: ein langer, ruhiger Fluss. Ein wenig Dynamik entsteht, wenn sich die Performer zu einem Gruppenbild verbinden, mehrere „Tiere“ als Rudel oder Gemeinschaft auf der Bühne anwesend sind. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei – die Performer haben, wie Busy Rocks es selbst beschreiben, „den Traum vom Fliegen für einen kurzen Moment wahr werden (lassen) und ihn zugleich dekonstruiert.“ Nett war’s – und dann war’s auch gut.
Den Rezensenten hat der zweite Teil des Nachmittags stärker in den Bann gezogen als der erste. Das mag daran gelegen haben, dass Tuur Marinus bei The Workshop Musik einsetzt, ruhige, melodische Weisen ebenso wie poppige Beats. Die Cyborgs blinken: An den schwarzen Kleidern der Performer sind Spiegel respektive silberne Materialien angebracht, die das Licht der in Bodennähe angebrachten Scheinwerfer reflektieren. Das gibt hübsche Lichteffekte und der Szenerie gelegentlich eine Techno-Anmutung, die jedoch nie zu Lasten der Poesie der entstehenden Bilder geht. Musik und ein im Vergleich zu Still Animals wesentlich aktiveres Lichtdesign lassen The Workshop atmosphärisch dichter und magischer erscheinen. Beim Titel handelt es sich um ein kleines Wortspiel: Tuur Marinus und Busy Rocks haben in ihrem Geräteschuppen gekramt und stellen mit ihren Mensch-Maschinen Arbeitsgeräte und Werkzeuge dar: Rasenmäher, Gabelstapler, Brunnenpumpen, Walzen, Schneeschieber etc.. Die große Maschine wird immer komplexer; wir denken an Kurbelwellen und Pleuelstangen, ein Fahrzeug rast durch die Nacht, und plötzlich kreist am Himmel ein neues Gestirn, ein UFO aus Restmüll, das Fortschritt bringen mag oder Niedergang.
All das wird ausschließlich durch die menschlichen Performer und ihre Kostüme dargestellt; es gibt – mit Ausnahme einiger Matten, auf denen die Tänzer über den Boden gezogen werden – keinerlei Requisiten. Dennoch entstehen: Cyborgs - wahre Mensch-Maschinen, nicht bedrohlich, sondern poetisch. Menschen bedienen diese Maschinen, und Menschen stellen die sichtbare Technik dieser Maschinen dar. Die Kraft, die das Operieren der Geräte kostet, wird nicht aus der Stärke von Motoren gewonnen, sondern aus der Muskelanspannung der Tänzer. Diese Tänzer müssen wie die Einzelteile einer Maschine perfekt aufeinander abgestimmt sein. So erzählen sie, wie Tuur Marinus sagt, auch von dem seltsamen Nebeneinander von Manipulation und Partizipation, Individualität und Solidarität, das die Choreographie ebenso prägt wie unser aller Leben.
In einem dritten Teil des Nachmittags haben die großen und kleinen Zuschauer in einem echten Workshop die Gelegenheit, selbst zur „Mensch-Tier-Maschine“ zu werden. Es ist ein Foto-Workshop, in dem die Besucher die Bilder aus Still Animals nachstellen und im Muybridge-Stil fotografiert werden. In Anbetracht seiner 100 Kilo hat der Unterzeichner diesen Workshop ausgelassen. Allzu leicht wäre aus dem Traum vom Fliegen der Alptraum vom Plumpsen geworden ...