b.26 im Theater Duisburg

Heile Rokokowelt und düstere Trauer

Erstaunliche 175 Jahre europäischer Tanzgeschichte umspannt das neue Programm des Ballett am Rhein b.26, das im ausverkauften Theater Duisburg Premiere feierte. Die Bandbreite dieser Kompanie lässt immer wieder staunen. So unterschiedlich die Handschriften des Dänen August Bournonville, des Engländers Antony Tudor und des in Deutschland künstlerisch groß gewordenen Australiers Terence Kohler auch sind: dem Tanz auf Spitze huldigen sie alle.

Heiter, hell und verspielt kommt das Bournonville Divertissement daher, einstudiert von dem ehemaligen Bournonville-Tänzer Johnny Eliasen. Kurze, hochvirtuose Soli, Pas de deux und klar strukturierte Ensembles aus den romantischen Handlungsballetten Napoli und Blumenfest in Genzano von der Mitte des 19. Jahrhunderts bilden diesen Auftakt. Kleine, schnelle Sprungkombinationen, hohe Arabesken und wirbelnde Pirouetten, akkurat gereihte Diagonalen und kleine Rundtänze der neapolitanischen Fischerjungen und in bonbonfarbene, halblange Tüll-Tutus gehüllte Damen spiegeln südländische Sommeridylle im Rokoko-Stil zwischen klassischer Ballettbrillanz und Charaktertanz. Ausgelassen feuern die fünf Paare bei der Tarantella mit Tamburinen einander an. Julie Thirault ist die kokettierende Herzdame, Philip Handschin ihr leichtfüßiger Galan.

Als düsteres Trauerritual auf Gustav Mahlers Kindertotenlieder folgt Antony Tudors Dark Elegies (Dunkle Klagen) von 1937. Der Bariton Dmitri Vargin trägt die fünf Gesänge nach Rückert-Gedichten, rechts an der Rampe sitzend und von den Duisburger Philharmonikern unter ihrem GMD Axel Kober begleitet, klar deklamierend, klangschön und sehr würdevoll vor. Mit expressionistischer Strenge und stilisiert eckigen Bewegungen scharen sich Frauen um eine trauernde Mutter (Camille Andriot), die erkennt, dass nur für sie selbst die Welt dunkel geworden ist nach dem Tos des Kindes. Einsam Trauernde und liebevoll Tröstende inmitten einer „heilen" Welt sind danach auch Virginia Segarra Vidal und Marcos Menha, Michael Foster, So-Yeon Kim sowie Andriy Boyetskyy.

One (Eins) hat Terence Kohler seine neue Choreografie auf Brahms' Erster Sinfonie genannt. Intensiv hat er sich mit der vielschichtigen, komplexen Struktur des Werkes auseinander gesetzt und das Ensemble an der Umsetzung seiner Ideen in Gesten und Schritten beteiligt. Verena Hemmerlein hat auf die Hinterbühne ein Gebilde aus hohen, kantigen Elementen wie ein unüberwindliches Gebirge gestellt. Diesen Koloss gilt es zu bezwingen. Marlúcia do Amaral nimmt den Kampf als erste auf. Bebend, zitternd, sich biegend und staksend kämpft sie sich vor, hämmert wild gegen den Fels, nimmt später Vorsprünge einer Kletterwand zu Hilfe - erfolglos. Die Einzelkämpferin bleibt gefangen im Chaos der widerstreitenden Masse Mensch, wo „Walküren" eine ganze Legion „gefallener Helden" einsammeln. Im zweiten Satz schält sich aus der allgemeinen Tarnkleidung - je nachdem, ob Sonnenschein oder Regenwetter herrscht - ein strahlendes Liebespaar: Anne Marchand und Boris Randzio. Yuko Katos überbordend lebensfrohes, energiegeladenes, raffiniertes Solo zum heiteren Allegretto dürfte in die neuere deutsche Tanzgeschichte eingehen.

Danach greift Tragik Platz - oder: ist's das ehrliche Eingeständnis von Versagen? Zum dreiteiligen Schlusssatz von Brahms' Erster liefert Kohler lediglich eine eher läppische Lösung des Problems der Gebirgsüberwindung: zwei Tänzer schleppen eine Leiter auf die Bühne, über die die Kompanie auf die andere Seite der ersten Bergkette klettert - und drüben hinunter. Dahinter türmen sich weit höhere Berge..... Die Zuschauer sind nun also gezwungen, allein der Musik zu lauschen, die leider bei der Premiere nicht durchweg akkurat und so ausdrucksvoll wie in einem Konzert geboten wurde. Ein gewollter, wenig tragfähiger Gag - oder mangelte es dem Choreografen an Zeit, seine Choreografie zu Ende zu führen? Terence Kohlers Debüt mit dieser Weltklasse-Kompanie hinterlässt bei aller Faszination für starke, originelle Tanzbilder und eine innovative Körpersprache einen unbehaglichen Nachgeschmack.