Zwei Klassiker und eine Uraufführung
Das legendäre Antikriegsballett Der Grüne Tisch von Kurt Jooss ist ein außergewöhnliches Stück im Rahmen der Programme des Ballett am Rhein. Es ist ein historisches Juwel, in dem nicht - wie üblicherweise bei Martin Schläpfer - tanztechnische Relevanz im Vordergrund steht, sondern der Gehalt einer politischen Aussage. Aber gerade jetzt wird die zeitlose Aktualität des expressionistischen Meisterwerks bewusst. Alles ist stilisiert und typisiert in dieser Totentanz-Parabel in acht Bildern, umrahmt von den disputierenden „Schwarzen Herren" im Frack (Kostüme: Hein Heckroth mit den Masken von Hermann Markard). Kein Schritt, keine Geste ist überflüssig. Alles hat eine Bedeutung. Die Wirkung dieser meisterlich pantomimischen Satire verhandelnder Diplomaten, die sich schließlich auf Krieg „einigen", ist immens. Hämmernd und pochend, wild und getragen hauen die beiden Pianisten Christian Grifa und Wolfgang Wiechert Fritz A. Cohens motorische Rhythmen in die Tasten - Musik, komponiert als Doppelstrich unter den eindrücklichsten Appell eines Choreografen gegen Feindseligkeit, Habgier, Unmenschlichkeit und Gewalt.
Kurt Jooss (1901-79) gilt als Vater des deutschen Tanztheaters. Der Tänzer-Choreograf aus Schwaben begann seine choreografische Karriere 1924 als Ballettmeister und Bewegungsregisseur am Stadttheater Münster. Hier entwickelte er mit der Tänzerin Aino Simola, seiner späteren Ehefrau, sowie seinem damaligen Bühnenbildner Hein Heckroth und dem komponierenden Korrepetitor Fritz A. Cohen seine Neue Tanzbühne. Expressionistische Tanzstücke und erste Skizzen zum Grünen Tisch entstanden. Mit der Uraufführung 1932 in Paris bei einem Wettbewerb, den Joos einstimmig gewann, begann der bis heute anhaltende Siegeszug des Antikriegsballetts durch die Welt. 1927 war Jooss Mitgründer der Essener Folkwang-Schule. Mit seinen Münsteraner Tänzern und Mitarbeitern bildete er das Folkwang-Tanztheater (später -Ballett, heute -Tanzstudio). In den 1950er Jahren reifte Pina Bausch als seine erfolgreichste Meisterschülerin heran und vollendete seine Ideen eines neuen Bühnentanzes mit ihrem Welttheater revueartiger Collagen.
Selten trifft Tanz die aktuelle politische Wirklichkeit so direkt wie im Grünen Tisch. Atemlose Stille herrschte am Premierenabend im Düsseldorfer Opernhaus - just während in Brüssel die europäischen Staatsoberhäupter debattierten, als Der Tod in Gestalt des Kriegsgottes Mars mit roboterartiger Gestik und stampfendem Schritt durch das kriegsgeschüttelte Land schritt und reiche Ernte einfuhr. Ohne dessen gelegentliche Güte schleicht Der Schieber in seinem Windschatten durch die Lande, grabscht mit weiß behandschuhten Händen von Toten und Lebenden, was sich in Geld und Macht umsetzen lässt.
Weil man das Ensemble des Ballett am Rhein nach nunmehr 27, meist dreiteiligen, technisch hochvirtuosen Programmen gut kennt, berührt ihre intensive Darstellung in Jooss' legendärer Choreografie von 1932 besonders in dieser Einstudierung der Jooss-erfahrenen Jeannette Vondersaar und Claudio Schellino. Chidozie Nzerem ist Der Tod, Marlúcia do Amaral Das junge Mädchen, Camille Andriot Die Frau, Yuko Kato Die alte Mutter, Sonny Locsin Der Schieber, Friedrich Pohl Der Fahnenträger, Brice Asnar Der junge Soldat, Andriy Boyetskyy Der alte Soldat.
Zum Auftakt des neuen Ballettabends zeigen Ann-Kathrin Adam und Marcos Menha federleichte Freude am Tanz, inspiriert von Igor Strawinskys Duo Concertant für Klavier (Alina Bercu) und Violine (Dragos Manza) in dem gleichnamigen Pas de deux von George Balanchine. Aber zum 5. Satz der Komposition verdunkelt sich die Bühne. Nur ein schmaler Lichtkegel spendet den verunsicherten Tanzenden Licht. Balanchine trauert um den kurz zuvor verstorbenen, kongenial inspirierenden musikalischen Partner.
Zwischen den beiden in jeder Hinsicht so gegensätzlichen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts schlägt Martin Schläpfer mit der Uraufführung seiner Choreografie Variationen und Partiten auf Ballettmusik von Jakob Haibel und Bachs Klavier-Partita Nr. 6 (am Klavier: Denys Proshayev) die Brücke auf heitere Art. Kindlich verspielt, kokett, burlesk und natürlich mit anspruchsvollem Raffinement kommen die miteinander verwobenen Szenen daher. Man kennt das seit Schläpfers Appenzeller Tänzen: gelegentlich muss der Schweizer einfach mal laut lachen. Diesmal unterbricht Bühnentechnikerin Barbara Stute als Die Andere in Straßenpumps und strengem schwarzen Hosenanzug das Techtelmechtel ihrer „Tochter" mit einem Adonis - eine Hünin zwischen drahtigen Tänzern und zarten Ballerinen.
Reihen bunter Kugeln schweben unter der dicken Metallstange vor dem rückwärtigen Vorhang aus Schnüren, die mal schwarz, mal blau schimmern und „-zig" Auftrittsmöglichkeiten wie in einem Varieté bieten. Eine zweite Stange, schräg in der Rampenmitte im Boden endend, schließt die Spielfläche nach vorn ab. Immer höher wandern die hintere Stange und die bunten Kugeln, deren leuchtende Farben sich in schmalen Umrandungen der sehr eleganten, transparenten Kostüme wiederholen (Bühne: Thomas Ziegler, Kostüme: Nelly van de Velden). Ein unterhaltsames Sehvergnügen!