Übrigens …

Roméo et Juliette im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Ein etwas anderes Shakespeare-Ballett

Eine Besonderheit von Thierry Malandains Ballett-Version der Liebestragödie nach Shakespeare liegt in der Wahl der Musik. Nicht Sergej Prokofjews populäre Partitur von 1940 erklingt, sondern die genau ein Jahrhundert früher komponierte „Dramatische Sinfonie Roméo et Juliette“ von Hector Berlioz (in einer nicht identifizierten Einspielung). Zwar beklagt Malandain die Schwierigkeit, Berlioz‘ Komposition zwischen Oper und Oratorium für den Tanz zu nutzen. Jedoch arrangiert er recht plausibel Schlüsselszenen des Dramas zu den sieben sinfonischen Sätzen, beginnend mit einem Chor-Prolog, in dem Pater Lorenzo („Bruder Laurent“ – Frederik Deberdt) sich als Schicksal bestimmender Strippenzieher und diabolischer Magier im schwarzen Pfaffengewand mit stilisiertem Gestus einführt.

Um die Liebe statt der politischen Rivalität der Veroneser Aristokraten  in den Vordergrund zu rücken, besetzt Malandain das junge Paar aus den verfeindeten Familien achtfach. Fast marionettenhaft simpel, Laurents Diktat folgend, bewegen sich alle anfangs in schlecht sitzenden Kostümen wie in einem Totentanz der vorweg genommenen Sterbeszene. Kämpfe der gegnerischen „Gangs“ – das Flair der High Society weicht Volkstümlichkeit – und ausgelassenes Volksfest folgen. In der Balkon-Szene nähern sich Raphaël Canet und Claire Lonchampt anrührend zerbrechlich einander an. Spritzig virtuos sind die tödlich endenden, sehr deutlich John Crankos legendärer Choreografie nachempfundenen Degengefechte des Mercutio (Arnaud Mahouy) mit Tybalt (Daniel Vizcayo) und des „Prinzen“ (Mickaël Conte), der den Tod des Freundes rächt.

Malandain hat sich von den sizilianischen Kapuziner-Katakomben in Palermo inspirieren lassen. Nur ein Hauch dieser unheimlichen Gruft, wo mumifizierte Tote in teilweise schlecht sitzenden Kleidern kauern, stehen, hängen, sitzen – von Angehörigen einst immer wieder neu eingekleidet, als lebten sie noch oder wären Anzieh-Puppen -, ist zu spüren. Unwirklich und doch omnipräsent ist in der Totenstätte der Tod. Malandains Ballett dagegen ist makabres und schrilles Volkstheater einer Wanderbühne. Die von dem französischen Choreografen so geliebten Metallkisten für Requisiten sind hier einmal blank poliert, dienen als Kostümkisten, Betten, Bahre und Särge, Balkon und Straßenflucht, werden gestapelt, gereiht, hochkant gestellt. Und jeder der 16 Tanzenden des Ballet de Biarritz ist Romeo, Julia oder auch mal ein anderer Solist.

Thierry Malandain konterkariert Berlioz‘ bombastische Hochromantik mit einem Tanzstück im Stil der Arte Povera sehr effektvoll und reizvoll anders als herkömmliche Shakespeare-Ballette.