Prosperos Insel im Theater Marl

Prosperos Insel

Wer Shakespeares letztes Schauspiel Der Sturm nicht präsent hat, könnte angesichts mancher Veränderungen der Shakespeare-Vorlage mit der Handlung an diesem Ballettabend gelegentlich ins Straucheln geraten. Aber was tut's. Bridget Breiner zeichnet menschliche Charaktere und Zauberwesen, wirft Fragen nach Menschsein und Verantwortung auf - und unterhält mit einem zwar leider allzu düsteren, aber hochästhetischen Theaterkunststück, in dem neben den großartig ausdrucksstarken Tänzern die Musik eine Hauptrolle spielt. Schade nur, ja unverzeihlich eigentlich, dass auf dem dürftigen Programmzettel lediglich die Komponisten in alphabetischer Reihenfolge genannt werden, nicht aber die einzelnen Kompositionen in der chronologischen Abfolge und nicht einmal die für die Wahl zuständigen, so verdienstvollen Künstler.

Immerhin ist der Jugendkonzertchor Dortmund mit seinem Leiter Felix Heitmann unter den Mitwirkenden gelistet. Das Ensemble der Chorakademie Dortmund präsentiert - zwischen eingespielten Kammermusiken von Peteris Vasks - exquisit die fünf Songs of Ariel von Frank Martin sowie Three Elizabethan Songs von Ralph Vaughan Williams. Sie machen gleich in der ersten Szene mit einem faszinierenden, noch ganz jungen Engländer bekannt: Benjamin Rimmer hat im Auftrag des Ballett im Revier Shakespeares Epilog vertont und die grandiose Sturm-Musik am Ende des 1. Ballett-Teils komponiert.

Die jungen Choristen erfüllen aber noch viel weiter reichende Aufgaben mit staunenswerter Präzision: sie klatschen rhythmisch als prassele Regen auf die Insel und geistern als Statisten, Bühnenarbeiter und sonstige „dienstbare Geister“ durch den Raum von den Kulissen und der Hinterbühne bis in den hoch gefahrenen, leeren Orchestergraben.

Die Tänzer können sich derweil völlig auf Soli, Duette und kleine Ensembles konzentrieren. Der kraushaarige, muskulöse Ledian Soto ist ein ungestümer Hitzkopf - ein Prospero, Herzog von Mailand, wohl wenig geeignet zu regieren, aber zärtlicher Vater, der das offenbar mutterlose Baby Miranda den Bediensteten aus den Armen nimmt, um mit ihm aus diesem Alltag auf eine einsame Insel zu fliehen. Federleicht, kokett gibt sich dort die zauberhafte Rita Duclos als Luftgeist Ariel. Valentin Juteau ist der liebeshungrige, tapsige missgestaltete Tier-Mensch Caliban. Eine wunderbare Charakterstudie der hochnäsigen, später gedemütigten Antonia liefert Tessa Vanheusden. Francesca Berruto ist die zierliche Miranda. Die zwei Liebesszenen mit dem erfrischend natürlichen Ferdinand (Carlos Contreras) machen jeder Romeo und Julia-Balkonszene Konkurrenz. Besonders schön sind kurze Duette, in denen sich ähnliches Denken und Sein zweier Charaktere spiegelt - etwa Prospero und Caliban.

Ausstatter Jürgen Kirner schafft Stimmungsbilder durch unterschiedlich gefärbte Rückprospekte mit Schilf. Ein Felsriff schwebt über der Szene, umgeben von einem Metallreifen - Symbol für Prosperos  Lebenskreis?

Bridget Breiner ließ sich für ihre erste Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen vom diesjährigen Thema mitnehmen: „Mare Nostrum.“ Das Mittelmeer, von den „alten“ Römern als Eigentum vereinnahmt, seit Urzeiten (auch) Transitzone zwischen afrikanischen und europäischen Kulturkreisen, ist ganz aktuell wieder in aller Munde und für so viele Flüchtende noch immer „Raum der Hoffnung“, wie Schiller das Meer definierte. Breiner hat nicht die aktuelle Katastrophe kommentiert, sondern zeitlose Bilder von Menschen gezeichnet.