Faust II als Ballett?
Xin Peng Wang und Dramaturg Christian Baier als Verantwortlicher auch für Konzept und Szenario wagen sich nach Faust I - Gewissen nun mit Faust II - Erlösung daran, Goethes erstaunlich zeitlose Kopfarbeit mit heutigen Themen tänzerisch zu interpretieren. So entstehen Bilder von flüchtenden Menschen im Meer, Jet-Set-Parties, Spielenden, Lichtgestalten und finsteren Machenschaften - und Ballett-Nummern wie bei einer Gala. Sehr viel steckt in Faust II für der Deutschen Zitatenschatz und viel mehr Stoff wie auch theatrale Szenen als für einen einzigen Theaterabend an einem mittleren deutschen Stadttheater. Was im Programmheft als „Handlung“ deklariert und mit englischen Titeln heutig aufgemotzt ist, dürfte für die wenigsten Zuschauer aufschlussreich sein. Sei's drum. Gucken ist an diesem Premierenabend ohnehin alles! Das Publikum war hingerissen.
Den Lauf der Welt von den antiken Mythen über selbstherrlich prunkvolles höfisches Gehabe des Mittelalters bis zur Utopie einer besseren Zukunft für die armen Erdenbewohner packt Deutschlands greiser Dichterfürst in den zweiten Teil seines opus magnum. Im Dortmunder Ballett fokussieren drei Träume auf die Protagonisten Faust, Mephisto und Gretchen (wohl die unschuldig weiße Maid im grün-fluoreszierenden Käfig - im Personenverzeichnis taucht sie nicht auf). Homunculus (Giacomo Altovino) räkelt sich als Inkarnation von Fausts „cloned life“. Der Meister bestaunt das „Sonnenkind“ - Produkt seiner lasterhaften Fleischeslust. Helena huscht in ägyptischem Kleopatra-Profil vorbei. Das Glamourpaar wurde bei der Premiere von den betörend schönen Münchner Gästen getanzt: dem Adonis-gleichen, hochgewachsenen Marlon Dino als Faust und der zierlichen, unglaublich geschmeidigen Lucia Lacarra als in der Tat sehr schöne Helena. Choreograf Wang bedachte das Paar mit zwei langen Duetten - veritablen zirzensischen Akten.
Spektakulär ist die Raumgestaltung. Installationen mit Neonröhren des chinesischen Lichtkünstlers Li Hui werden ergänzt durch das Lichtdesign von Ralph Jürgens und Tobias Ehinger - faszinierende Architektur aus farbigem Licht, Schatten, Dunst und Nebel, wogendem Meer. Die Kostüme von Bernd Skodzig orientieren sich an dem, was Tänzern am meisten Bewegungsfreiheit bietet: (fleischfarbene) Ganzkörpertrikots, dazu für Faust das klassische Ballerino-Kostüm, für die schöne Helena weiter Hosenanzug und Diadem. Mephisto kommt als Popstar in schwarzem Lack daher. Dann Wilkinson tobt sich diesmal (im Gegensatz zu seinem Premierenauftritt in Faust I als schüchternes Bürschchen) so richtig aus.
Zwischen gestern und heute, U- und E-Musik pendelt die eindrucksvoll von den Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von Philipp Armbruster gespielte Musikcollage.
Trotz aller Versuche, Faust II in das Korsett aktueller Flüchtlingsdramen zu zwängen: auf allen Ebenen wird die Vielschichtigkeit, Undurchsichtigkeit und Unlösbarkeit der Fragen in Goethes Dichtung spürbar. Erlösung liegt in weiter Ferne.