Übrigens …

Romeo und Julia im Theater Münster

Kein Familienkonflikt

Zum vierten Mal hat Münsters Tanztheaterchef Hans Henning Paar diesen modernen Klassiker einstudiert. Sein Konzept ist das gleiche wie bei den Aufführungen an seinen früheren Wirkungsstätten Kassel, Braunschweig und München. Aber choreografisch hat er neue tanz-technische Akzente gesetzt (mit halsbrecherischen Würfen, Kämpfen und Sprüngen) und die Soloparts seinen Münsterschen Solisten auf den Leib geschrieben - und bezieht sie immer wieder mit kurzen Zitaten aus Shakespeare Tragödie ein. Da überzeugt Mirko de Campi als hinreißender, geschmeidiger „Bengel" Romeo, pendelt Maria Bayarri Pérez ausdrucksstark und federleicht als Julia zwischen aufmüpfig gegen die Mutter revoltierendem Teenie und scheuem Liebchen. Eine temperamentgeladene, selbstverliebte Diva bringt Elizabeth Towles als Lady Capulet auf die Bühne. Matthias Markstein porträtiert Capulet als lüstern-lustvollen Partylöwen. Adam Dembczy?ski tritt als brutaler Tybalt auf. Alessio Sanna (Mercutio) und Jason Franklin (Benvollio) sind Romeos übermütige Kumpel und treue Vasallen - bis in den Tod. Keelan Whitmore gibt den hocheleganten Pater Lorenzo auf der Flucht vor seiner Verantwortung. Wie die streitlustigen Jugendlichen und Bürger bringt auch die Amme (Anna Caviezel) eine satirisch-parodistische Note ins Geschehen - oft reichlich übertrieben.

Wenn der Choreograf betont, näher bei Shakespeare zu bleiben als Prokofiews Librettisten, so trifft das einerseits zu, andererseits aber eher gerade nicht. Zu stroboskopisch flackerndem Licht rezitieren die Tänzer aus dem Off in ihrer jeweiligen Muttersprache den Prolog, während in der Bühnenmitte Lorenzo wie in einem Alptraum auf der Stelle rennt, ohne wirklich fliehen zu können.

In Romeos erstem Solo entspinnt sich sozusagen ein Dialog zwischen dem jungen Mann und einer hocheleganten Dame, deren Bild auf die Wand projiziert wird. Verführerisch posiert und geriert sie sich - Shakespeares Rosaline, Nichte von Capulet, die Romeo begehrt, bevor er der wesentlich jüngeren, unschuldsvollen Julia begegnet und seinem Verlangen nachgibt (bei Shakespeare tritt Rosaline nicht auf). In Mercutios folgendem Solo - seiner berühmten "Rede" - zieht er Romeo auf, der wohl von „Queen Mab", der Traumbringerin - einer winzigen Fee wie aus dem Sommernachtstraum - zu sexuellen Träumereien und Fantasien animiert worden sei. Paar setzt diese ebenfalls bei Shakespeare nicht auftretende Figur (Thanh Pham) wie einen gestrengen, fast gouvernanten-artigen Todesengel ein.

Die Rivalität der beiden Häuser ist erstaunlicherweise eliminiert. Der politisch-gesellschaftliche Handlungshintergrund ist auf den psychologischen Mutter-Tochter-Konflikt reduziert, das Liebespaar auf zwei „pubertierende Jugendliche", wie Paar sie sieht. Sie sterben im Herbstlaub, das von Anfang bis Ende den Bühnenboden bedeckt....

Diese erheblichen Veränderungen des Ballett-Librettos nehmen selbstredend auch Einfluss auf die Musik. Mit harschen Dissonanzen (aus den Kampfszenen) setzt die gekürzte Partitur ein, die bei der Premiere vom Sinfonieorchester Münster unter Stefan Veselka nicht immer klangrein und feinfühlig gespielt wurde. 

Die Drastik, mit der Shakespeare seine Zeitgenossen immer wieder schockierte - und begeisterte, steht an diesem Abend sowohl auf der Bühne als auch im Orchestergraben im Vordergrund. Das allzu laute, grelle Getümmel übertünchte nahezu jede Poesie. Der Shakespeare'sche „Unterhaltungswert" freilich ist und bleibt unverwüstlich.