Cold Blood im tanzhaus nrw

Die Fingerfertigkeit der sieben Tode

Kennen Sie die auch, diese kalte Stelle auf Ihrer Wange, dort, wo sie Sie nicht geküsst hat nach dem letzten richtig fies gewordenen Ehekrach? „Du bist ja nie da“, hat sie gesagt. „Einer muss ja das Geld verdienen“, haben Sie entgegnet. Sie haben Ihre Tasche genommen und ungeküsst das Haus verlassen. Aber Sie gehen nicht ins Büro, sondern zum Weltraumbahnhof. Engines on. Check ignition. And may God’s love be with you!

Sie wissen, wie das ausgeht: Major Tom verlässt den Sendebereich der Bodenkontrolle und verschwindet im All. „Tell my wife I love her very much …“ Es ist der siebte Tod, den Sie heute Abend sterben werden: der „Tod nach heftigem Druckausgleich“. David Bowie singt, links steht noch das Miniaturmodell der Rakete auf einem kleinen Wägelchen auf der Bühne, rechts hat einer der Performer ein solches Modell auf dem Schoß, so dass der Kameramann die glühenden Auspuffrohre ihrer Triebwerke filmen kann. And you? You’re floating round your tin can, far above the moon. Und dann: “Eins, zwei, drei” – Sie sind wieder wach.

Der siebte Tod ist so schön wie die sechs zuvor in diesem sehnsuchtsvollen, spektakulären Live-Film, den die belgische Choreographin Michèle Anne De Mey und der Film- und Theaterregisseur Jaco Van Dormael für das Finale der Europäischen Kulturhauptstadt Mons 2015 entwickelt haben und der jetzt in einer deutschen Erstaufführung im tanzhaus nrw in Düsseldorf gastierte. Sieben kleine Geschichten erzählen De Mey und Van Dormael. Sie alle enden tödlich. Und sie feiern das Leben, sie feiern vor allem den Tanz. Oft ist das tödliche Ende so weit hergeholt, dass es mit der Geschichte kaum verbunden ist; viele Geschichten sind so banal, dass es kaum lohnen würde, sie zu erzählen – wenn sie nicht Anlass für diese virtuosen Tänze wären. Aber da tanzt doch gar keiner?

Es tanzen: Finger. Sie tanzen in Miniaturkulissen, die auf eben jenen erwähnten Wägelchen auf die Bühne gefahren werden und oft in einer Art Aquarium versteckt sind. Es sind gesichtslose Städte, Hochhäuser und klassizistische Villen aus Pappmaché, Opern- und Varietébühnen, ein Autokino, eine Peepshow, eine Straße, ein romantischer Wald. Und immer tanzen die Finger der vier Performer (neben De Mey und Van Dormael Nora Alberdi und Grégory Grosjean): Sie steppen wie Fred Astaire – Fingerhüte bilden die Steppschuhe. Sie winden sich lasziv und hocherotisch um die Stange beim Pole Dance. Sie vollführen einen virtuosen Tanz zu Maurice Ravels Bolero. Sie tanzen auf einer Bühne in einer Revue aus den 50er, 60er Jahren, und plötzlich sehen wir das große Videobild, das die von den Kameraleuten aufgenommenen Bilder in Großaufnahme zeigt, noch einmal ganz in klein auf einem anderen Produktionswagen. Dort wird es zur Leinwand in einem Autokino. In den Autos sitzen Menschen: Finger. Wir sehen es, weil die Großleinwand im tanzhaus nun das neue Bild zeigt.

In einem anderen Auto trommelt der Fahrer zum Takt der Musik auf sein Lenkrad. Sein Körper: ein Finger. Seine Finger: seine Finger, von unten hineingesteckt in das Spielzeugauto, aufgenommen per Zoom von einem Kameramann. Die Suggestion gelingt perfekt, obwohl das Making Of nicht versteckt, sondern offensiv ausgestellt wird. Am Rand der Bühne sitzt ein Mann am Laptop und mischt die Bilder der verschiedenen Kameras zusammen. Meist entsteht ein Bild an mehreren Schauplätzen auf der Bühne. Im Schauspiel kennen wir das aus dem grandiosen Bildertheater von Katie Mitchell. Manchmal formieren sich die Bilder auf der Leinwand zu großartigen Choreographien, die Hollywood-Filme oder klassische Tanz-Choreographien zitieren, denn der Videokünstler vermag mit den Bildern virtuos zu spielen. Am Laptop wird auch die Musik gemischt: wunderschöne, einschmeichelnde Melodien von Schubert, Wagner, Arvo Pärt oder Lou Reed, aber auch Filmmusik und Stepptanz. Das Lied von Tod, das uns das Ensemble an diesem Abend spielt, ist kein grausames, sondern ein zärtliches, sehnsuchtsvolles. Wüsste man es nicht besser, würde man denken, dass diese Aufführung nur im todessehnsüchtigen Wien entstanden sein könnte. Walzer sind inklusive.

Die Bilder, die Geschichten sind nicht minder romantisch. Zu Beginn stürzen wir mit einem Flugzeug ab – mitten in einen lichtdurchfluteten Märchenwald. Alle Insassen des Flugzeugs haben überlebt, nur einer nicht: Sie. Nur deshalb können Sie die sieben Geschichten vom Tod erleben. Aber glauben Sie nicht, was Ihnen immer erzählt wird: dass im Moment des Todes Ihr ganzes Leben im Zeitraffer an Ihnen vorüberzieht! Im Moment des Todes sehen Sie einziges Bild, das bleibt. Vielleicht ist es das Bild des Mädchens, das Sie nur drei Minuten gekannt haben – drei Minuten für eine Ewigkeit. Es ist das Mädchen aus der Peepshow, das so lasziv den Unterleib an das Peepshow-Fenster gedrückt hat. Vielleicht ist es das Bild ihres roten BHs, den Sie mit den Zähnen öffnen durften. Leider war ein Häkchen lose, und Sie haben es verschluckt. Das war Ihr dritter Tod: der erotische Tod. - Vielleicht ist es der meteorologische Tod, im Sturm, im Unwetter: Durch ein milchiges Glas nimmt die Kamera ein Spielzeughaus in einem Aquarium auf, das längst im Unwetter davonschwimmt. Ein Wanderer hat den Rückweg nicht gefunden, und die Finger von Michèle Anne De Mey tanzen über einen vereisten See inmitten eines tief verschneiten Gebirges. Es sieht aus wie eine Mondlandschaft. Vielleicht befindet sie sich längst im Jenseits. Egal, wie sagte schon Hedda Gabler: Nur schön muss es sein.

Manche Geschichten sind eigentlich schrecklich makaber: der Tod durch eine kannibalistisch veranlagte Frau, der Tod in einer brennenden Stadt durch einen Fliegerangriff. Doch erzählt werden die Geschichten von einer warmen Stimme, die ein ungeheures Wohlgefühl erzeugt. Der Abend schmiegt sich dem Zuschauer an, wickelt ihn ein wie ein weicher Kaschmir-Schal. Niemals sind die Szenen provokant; immer sind die Bilder von hoher ästhetischer Kraft und großer Sinnlichkeit. - Am Schluss, als Major Tom im All verschwunden ist, tanzen alle Finger wieder. Sie werden vervielfältigt, brechen sich in einem Kaleidoskop, werden zu winzigen menschlichen Körpern, die sich vereinigen und wieder trennen, die sich in rote und rosafarbene Blumen verwandeln und wieder zurück in menschliche Körper. Ein hinreißender, süffiger Walzer ist es, zu dem wir dieses wunderschöne Leben verlassen. Wenn Sterben so schön ist, dann komm, oh Tod, du Schlafes Bruder. Doch eins, zwei drei: und wir sind wieder wach.