Wie man Schuhe hassen kann
Bei allen „Kontrast“-Mitteln, die die drei Gastchoreographen beim jüngsten Ballettprojekt am Dortmunder Opernhaus in die Stücke Unitixt (Richard Siegal, Schüler von William Forsythe), Rain Dogs (Johan Inger, Schweden) und Hora (Edward Clug vom Slowenischen Nationalballett in Maribor) investieren, stehen die Produktionen mit der exzellent tanzenden Compagnie von Ballettchef Xin Peng Wang auf einem gemeinsamen Fundament: Es geht um Menschen, ihre Probleme, ihre Traditionen, ihre Instrumente und Funktionen, ihre Gratwanderung zwischen Komödie und Tragödie. Manchmal entfernen sich die längst international hoch gehandelten Choreographen von dieser zeitgemäßen, sogar in Passagen politischen Plattform, dann kommen sie sich wieder aktuell und surreal näher. Die Komplexität des Abends erschließt sich jedenfalls über die drei jeweils stimmigen, auch mal mystischen Gastbeiträge, die dadurch einige Rätsel aufgeben. Dennoch wurden sie anhaltend vom Publikum gefeiert. Eine weitere Klammer: die tänzerische Qualität. Wang hat sie im wahrsten Sinne des Wortes seit Jahren „auf die Spitze“ getrieben. Und noch eine Gemeinsamkeit: Die drei Choreographen befassen sich mit der Brüchigkeit von Überlieferungen – bei der Ästhetik, bei der Musikausdeutung, bei Symbol und Parabel.
In Unitixt fragt Siegal, welche Bedeutung der Ballettschuh für die Tänzerinnen und Tänzer besitzt; welche Ängste und Sehnsüchte mit ihm verbunden sind, wie sie den Schuh verdammen oder hassen, um dann doch spielerisch und ironisch mit ihm die Erweiterung des technischen Einsatzes zu erproben. So entsteht jedenfalls ein neuer, radikaler Tanzraum. Dazu (leider) eine etwas zu ruppige und ekstatische, meist aber nur noch laute elektronische Musik (Carsten Nicolai), für die sich die Ballettdramaturgie im Vorhinein entschuldigt. Man könne sich ja Ohrstöpsel ausleihen…
Bei Rain Dog (Songs von Tom Waits) schaut sich Inger den Alltag junger Paare an. Liebe, Glück, Erfolg, Gemeinsamkeit, Freude, Hingabe, Leidenschaft, Generationenfrieden? Ja, manchmal schon, aber… Das heißt in diesem Fall: Die Trivialität schwappt in die Seelenlandschaft der Gruppe. Es wird schwierig, zusammen zu stehen, das Kollektivgefühl zu steigern, den Horizont aller zu erweitern. Inger arbeitet witzige Details oder Momente der Überraschung in seinen Geschlechterkampf ein. Manche werfen nur scheinbar Fragen auf.
Hora von Clug, der das slowenische Tanztheater durch Rückgriffe auf die Folklore zugleich begrenzt und erweitert, ist eine poetische und lyrische Hommage an das Leben auf dem Balkan, zugeschnitten auf Hochzeit und das „Drumherum“. Der Tanz liefert Anregung und Meditation im ständigen Wechsel. Der „Kontrast“ (siehe Titel) wird zum Existenzprogramm. Die Musik mit dem Balanescu Quartett greift fantasievoll auf tänzerische Impulse zurück. Also kein „Retro-Stück“, sondern eine Studie über das, was man alles mit dem pulsierenden Tanz auf der Bühne ausdrücken kann.
Wie gesagt: Die drei Choreographen ergänzen sich durchaus plausibel und charakterfreundlich. Dazu die Kraft und Anmut der bestens geschulten Truppe des Dortmunder Theaters. Sie fühlt sich wunderbar harmonisch in die unterschiedlichen Stilelemente der renommierten Tanzschöpfer ein. Zunächst sprach man in Dortmund von drei „Wagnissen“ für dieses Projekt. Das waren sie am Ende und in der konkreten Praxis nicht. Sondern „nur“ schöne, unterhaltende, packende und fragende Charakterbilder über die Erkundung des Menschen.