Hilton, Hai und Handy
Nee, ne? Beim Selfie-Schießen mit dem Smartphone sollen mehr Menschen zu Tode kommen als durch Hai-Attacken? Das kann nicht sein, denkt man. Und fragt sich beim zweiten Lesen: Wie oft kommt eigentlich jemand durch einen Hai-Angriff ums Leben?
Na eben. Der spektakuläre Titel wird gekontert durch subtile Ironie. Die kann man durchaus häufiger finden in dieser kleinen Jugendproduktion. Kein Wunder, sind doch die eine Hälfte der künstlerischen Leitung (Oleg Zhukov nämlich) und der Komponist und Sampler der flotten Musik Mitglieder des humorvollen, menschenfreundlichen Künstlerkollektivs „Subbotnik“, das theater:pur bereits unmittelbar nach seiner Gründung im Jahre 2012 als eigenwillige neue Stimme der Theaterwelt feierte. Wieso haben wir eigentlich Angst vor Haien und nicht vor Handys? – Ein Junge erklärt’s: Das habe wahrscheinlich mit der Urangst des Menschen vor dem Gefressenwerden zu tun, die resultiert aus der Zeit, als wir noch im Urwald hausten und der Appetit der gejagten wilden Tiere unserem Hunger nach Fleisch in nichts nachstand. Und beim Selfie? Da steht man an den schönsten Aussichtspunkten dieser Welt, hoch droben auf den architektonischen Highlights unserer Städte zum Beispiel, und muss dringend dokumentieren, wo man ist, was man sieht, wie es einem geht und vor allem wer man ist. Man geht einen Schritt zurück, und noch einen: und plumpst vom Picture Spot in die Tiefe wie Paris Hilton im Tagtraum einer der Performerinnen ins freudig geöffnete Maul eines Haies - als sie an Bord einer Yacht ein Selbstbild machen will natürlich. Der Junge übrigens guckt fortan durch eine ganz einfache Zeichnung eines Hais, die er stets vor seinen Kopf hält. Der Hai sieht irgendwie aus wie ein Handy.
Stefanie Elbers und Oleg Zhukov eröffnen mit der kleinen Tanz-Performance das Symposium ON/LIVE 2017 – Das Theater der Digital Natives, das am ersten März-Wochenende 2017 im Forum Freies Theater Düsseldorf über die Bühne geht. Das Projekt wird gefördert im Rahmen von „Take-off: Junger Tanz“, einer Kooperation Düsseldorfer Kultur-, Bildungs- und Sozialeinrichtungen unter der Gesamtleitung des tanzhauses nrw. Zwölf Jugendliche im Alter zwischen 13 und 23 Jahren – vier Jungs und acht Mädchen – haben sich eingelassen auf eine wunderbare kleine Reise in die Welt der digitalen Bilder, zu den kleinen Eitelkeiten und Selbstinszenierungen, für die das allgegenwärtige Smartphone nützliche Dienste leistet. Oft beschreiben ein oder zwei Performer eine Situation, und die übrigen stellen sie in bewegten oder starren Bildern nach. Gemeinsam mit der Musik von Kornelius Heidebrecht entwickeln diese Situationen Atmosphäre, auch wenn man als Betrachter manchmal nicht weiß, warum. Es wird viel getanzt; die Jugendlichen imitieren das klassische Ballett; mit ihren Selfie-Sticks inszenieren sie ein Handyballett, das so romantisch wirkt, dass man glatt die dahinter liegende Ironie verpassen kann. Manchmal glaubt man sogar Bewegungselemente der Eurythmie zu erkennen, vor allem aber wird ausgelassen, auch mal romantisch gezappelt. Zwei Jungs haben einen großen Auftritt mit einer Hiphop- und Breakdance-Einlage – das wirkt spontan und lebenslustig, und wenn es denn auf den einen oder anderen ein wenig eitel wirken sollte, so sei gesagt: So soll es sein in diesem Alter. Die anderen Performer sind nicht eifersüchtig, sondern sie tanzen hinter ihren spanischen Wänden mit. Man erlebt das Making Of: Aus einfachen, trivial wirkenden Handlungsanweisungen entwickelt sich ein schwungvoller gemeinsamer Tanz. Gemeinsamkeit und Individualität finden in der Performance zu einer wohltuenden Balance. Dann macht mal eine nicht mit, eine andere beginnt zu weinen – typische Elemente des modernen Choreografischen Theaters finden sich in der Performance der Jugendlichen wieder, aber kaum hat man sich gewundert, wie exakt diese jungen Menschen nach kurzer Probenzeit ihre Choreographie ausüben, scheren sie sich im nächsten Moment überhaupt nicht mehr um den Gleichklang der Bewegung. Hier herrscht nicht die Diktatur des Choreographen, sondern die Fröhlichkeit und Ausgelassenheit der Jugend, die auch im Soundtrack von Kornelius Heidebrecht widergespiegelt wird.
Ganz leicht kommt diese Performance daher, ganz unanstrengend und harmonisch – und doch entdeckt man immer wieder versteckte Klippen hinter der milden Ironie: Thuy-Tien Nguyen erläutert mit professioneller Routine in Seminarleiter-Duktus oder mit der Ernsthaftigkeit des Kunst- Cicerone das Bild einer hübschen Kollegin, die live vor einer Art Fotorahmen steht. Noch denken wir an die Überhöhung von banalen Bildern durch Selbstinszenierungen per Handy. Doch dann macht Kelvin Prempeh die Gegenposition auf: blass sei das Mädel, krank sehe sie aus, viel zu sehr geschminkt sei sie - und eigentlich käme das hübsche Kind doch eher wie ein Zombie aus The Walking Dead daher. Das wirkt ganz harmlos, geradezu nett – und ist doch die Kehrseite der Selbstinszenierung in sozialen Netzwerken, weist auf die Gefahr des Mobbings hin.
Mit dem „Daydreams“-Song hatte die Aufführung begonnen – am Ende erzählen alle Performer von ihren Tagträumen. Skurrile Ideen finden sich darunter – und mit dem Sturz der Selfies schießenden Paris Hilton, die auf direktem Wege von der Reling ihrer Yacht im Maul des Haifischs landet, findet die Aufführung zurück an ihren Ausgangspunkt. Die Tanz-Erzählung der Jugendlichen aus der kalten digitalen Welt ist sehr erholsam geraten: hübsch und romantisch, liebevoll und ironisch, witzig und warmherzig.