Übrigens …

The Vital Unrest im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Auf der Sinnsuche

The Vital Unrest – die lebendige Unruhe. Nach einem Zitat von Tanzikone Martha Graham schuf die Gelsenkirchener Ballettdirektorin Bridget Breiner, bereits zweimalige „Faust“-Gewinnerin, ihre neue Tanzkreation – ein abstrakter Spiegel der philosophisch angelegten Sinnsuche, auf die sich die gesamte zwölfköpfige Compagnie begibt. Woher diese kleine Truppe die Kraft nimmt, wie sie serienweise seit Jahren großartige Projekte ihrer Chefin stemmt, wie sie den stilistischen Mix aus „auf Spitze“, barfüßig oder in Figuren und Symbolzeichen über die „Bretter“ rauscht – es ist, am Rande gesagt, ein kleines großes Rätsel. Bridget Breiner geht auch noch als Solistin der Compagnie voran – ein enormer Einsatz, denn schließlich wird der fast zweistündige Abend von ihr choreographisch gestaltet. Die „lebendige Unruhe“ scheint auch Breiner inspiriert und animiert zu haben…

Partner dabei: die Neue Philharmonie Westfalen unter dem Dirigat von Valtteri Rauhalammi, der in dem Auftragswerk des lettischen Komponisten Georgs Pelecis (Response) auch noch ein Klaviersolo übernimmt. Das Orchester kann gerade in dieser fünfsätzigen Sinfonie zwischen Jazzrhythmen, Neoromantik und „minimal music“ demonstrieren, wie sensibel man mit heutigen Klängen umgeht. Das Tanzensemble fühlt sich in dieser motorisch „gestylten“ Klangmixtur von Pelecis sichtlich wohl.

Nach der Pause: Camille Saint-Saëns´ Orgelsinfonie op. 78, romantisch durchpulste Musik des Franzosen, die ebenfalls von Rauhalammi und der Philharmonie so sorgfältig wie klangschön (zusammen mit Annette Reifig an der Orgel) zelebriert und als plausible Tanzfolie ausgebreitet wird.

Was passiert auf der Bühne? Deren Offenheit und Größe wird zunächst von Platten künstlich „markiert“ und dann von den Tänzerinnen und Tänzern freigelegt – ein Zeichen für den individuellen Weg, den jede(r) im Leben gehen muss – ein so einfacher wie überzeugender Schritt in den Graham-betonten Kosmos. Bridget Breiner, gleich zu Beginn des Abends mit einem großen Solo (choreographiert von Hitomi Kuhara, Paul Calderone, Valentin Juteau, Louiz Rodrigues) bedacht, entfaltet zusammen mit ihrem hochvirtuosem Team eine sinnfällige Augenweide – Filmsequenzen, eine Trash-Ecke, aus der Wasser in einen Tümpel fließt, die Weite und Tiefe der Bühne, ergänzen mit visuellen „Haltepunkten“ ein ewiges Kommen und Gehen, ein Fragen und Antworten, einen choreographischen Dialog zwischen Individuum und Gruppe. Wunderschöne, aus der Musik und deren fast zärtlicher Dynamik geborene Ordnungen und Intimitäten, die das Ballett ermöglicht.

Noch abstrakter als der erste Teil verläuft der zweite: Zur Saint-Saëns-Partitur bewegt sich die Breiner-Schar gymnastisch äußerst elegant und sprungkräftig auf dem weiteren Weg zur Kraftquelle aus der Unruhe, die in jedem Menschen steckt, um Größeres anzupeilen. Musik und Tanz bilden hier wie auch beim ersten Stück „Response“ eine beglückende Einheit. Man darf nicht nur bei jedem Schritt, bei jeder Hebung, bei jedem Zusammenfinden der Paare fragen, was dies alles konkret für eine humanistische Entwicklung bedeuten soll…

Neben der Solistin Breiner überzeugt das gesamte Ensemble. Juteau, Soto, Urrutia oder Calderone bei den Herren sowie Berruto, Kuhara, Zehr oder Zinna u.a. bei den Damen beweisen die hohe Schule des tänzerischen, körperbetonten, sinnlichen Ausdrucks – ohne einem Handlungsstrang zu folgen.

Es gab langen, anhaltenden Beifall im jedoch diesmal nicht ausverkauften Großen MiR-Haus.