Auf der Suche nach Heimat
Schlagende, klopfende Rhythmen eröffnen den jüngsten Tanzabend des Svetlana Fourer Ensembles. Die Tänzerin Shan-Li Peng windet sich in zuckenden Bewegungen. Die Musik, zu Beginn zwar düster, aber nicht ohne Magie, wird zunehmend schriller, fast schmerzhaft für die Ohren. Dann folgt ein kurzer Text, über Lautsprecher eingesprochen: Vater schickt leere Postkarten. Postkarten ohne Text in einer Aufführung, die mit Flucht ohne Ende überschrieben ist – da denkt man einen Mann, der Repressalien ausgesetzt ist und mit diesen Nicht-Meldungen seiner Tochter einfach nur ein Lebenszeichen senden will. Ist er ein Mann in einer fremden Diktatur, der sich bei seiner geflohenen Tochter meldet? Ein Geflüchteter, der seinen Aufenthalt nicht verraten darf? Ein Mann, der sich aus dem Gefängnis meldet und dessen leere Karten als eine Art Kassiber fungieren?
Ausdrücklich weist Svetlana Fourer auf ihrer Internet-Seite darauf hin, dass sich der Titel dieses Abends nicht nur auf die Flüchtlingskrise bezieht, sondern insgesamt auf Menschen zwischen etwa 40 und 60 Jahren: „In diesem Lebensalter spielen die Fragen nach Identität und die damit verbundene Suche nach den eigenen Wurzeln häufig eine große Rolle.“ Bei der Interpretation der von Fourer und ihren vier Protagonist(inn)en geschaffenen tänzerischen Raumbilder lässt die Kölner Choreographin uns bewusst allein. Sie fordert uns auf, selbständig nach übergeordneten Zusammenhängen zu fahnden, und zitiert in dem etwas enigmatisch daherkommenden Programmzettel den Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge: „Ich habe kein Bedürfnis, logisch zu verknüpfen, … Es ist ein Genuss, sich von den blödsinnigen Kausalitäten zu lösen, die dualistischen Formen aufzugeben, die tief in unserer Erziehung sind.“
Der Kluge-Satz ist als Gebrauchsanweisung für Fourers Abend ganz hilfreich, aber natürlich klappt das nicht – nicht jedenfalls bei einem Schauspiel-Kritiker, der sich ins Tanztheater verirrt hat. Der sucht nämlich trotzdem nach Kausalitäten. Ein Bild, das vor allem den zweiten Teil der Performance dominiert, kennen wir bereits aus den Alltäglichen Apokalypsen , einem Kooperationsprojekt von Svetlana Fourer mit den russischen Regisseuren Maria Litvinova und Viacheslav Ignatov aus dem Jahre 2014: Während die übrigen drei Tänzer(innen) sich zeitlupenartig im Hintergrund bewegen, kämpft Shan-Li Peng tanzend mit einem Rahmen, der die von außen auferlegten, vielleicht auch von Konventionen vorgegebenen oder in der eigenen Psyche begründeten Grenzen für die Freiheit eines Individuums versinnbildlicht. Ein solcher Rahmen kann stabilisieren, kann die Verankerung in einer Familie, in einer gesellschaftlichen Institution oder in einem politischen System bedeuten – aber eben diese Verankerung kann auch zum Gefängnis werden, aus dem man ein Leben lang zu fliehen versucht. – In einem frühen Bild robben die drei Tänzer als gequälte Figuren auf drei parallelen Bahnen, auch sie eingerahmt wie in einen Sandkasten. Statt Sand besteht der Inhalt dieser Bahnen aus feinen Stofflamellen. Unter diesem Stoff verbergen die Tänzer ihre Köpfe, zappeln dazu mit den Beinen: Sind sie hilf- und orientierungslos, weil sie den Kopf in den Sand stecken? Versuchen sie zu fliehen vor welchen Rahmenbedingungen auch immer, aber werden sie daran gehindert, weil man sie blind lässt und von Informationen abschottet? Für die erste Alternative spricht, dass die Tänzer(innen) den Kasten plötzlich vertikal aufstellen und sich hinter ihm wie hinter einer spanischen Wand verstecken.
Flucht hat immer auch etwas mit Heimat zu tun. Man flieht aus der Heimat und vermisst sie, man flieht aus der Fremde zurück in die Heimat, man flieht aus einem unbehausten Leben auf der Suche nach einem (neuen) Ankerplatz. „Wenn Sie mich fragen, was Heimat ist – keine Ahnung“, sagt die Choreographin Ilona Pászthy, die bei der Premiere für eine verletzte Tänzerin eingesprungen ist. „Menschen können mir nie Heimat sein. Vielleicht Europa …“. Dort könne man sich auf gemeinsame Werte und eine ähnliche Denkweise berufen – in anderen Kontinenten denke man anders. Natürlich denkt man unwillkürlich an Syrien, Afghanistan oder Nordafrika – aber dann erwähnt Pászthy stattdessen Kanada, dem wir uns bislang kulturell sehr nahe fühlten. Was Heimat ist, wird wohl doch stark von individuellen Vorstellungen, unserer individuellen familiären, gesellschaftlichen und politischen Prägung bestimmt. Meine Welt und deine Welt können auch bei ähnlicher Herkunft sehr unterschiedlich sein. Die Tänzerin reflektiert über ihre Entscheidungsspielräume, über die Möglichkeit oder auch den Zwang, Türen zu öffnen: „…davor eine leere Straße. Was hinter mir liegt, ist keine Möglichkeit.“ – Erneut bleibt es dem Zuschauer überlassen, diese Aussage als bittere Bestandsaufnahme zu interpretieren oder die Chance, die in der Veränderung, in der Flucht aus der bisherigen Unzufriedenheit liegt, zu erkennen und zu begreifen. „Manchmal hast du keine Wahl“, hatte die Tänzerin gesagt – oft genug hat man eine.
Heimatlosigkeit kann den Menschen auch in der Beziehung ereilen. Auch das wird mit Hilfe einer tänzerischen Szene aufgezeigt: Die Aufforderung einer Tänzerin an Nikos Konstantakis, den einzigen Mann im Ensemble, mehr Nähe, mehr Erotik zuzulassen, wird mit einem technisch-mechanistischen Tanz beantwortet. „Ask me something about me“, sagt sie. Die Suche nach mehr Beachtung, nach mehr Liebe wird so fraglos erfolglos bleiben. - Am Ende folgen noch zwei Szenen, die wir unwillkürlich wieder mit der Flüchtlingskrise assoziieren. Schwankend wie ein Schiff in stürmischer See bewegen sich die drei Tänzerinnen zur Musik. Schließlich wird eine am Boden zur Ruhe gebettet - tot. Die beiden anderen lehnen sich erschöpft aneinander – und sinken gemeinsam nieder. Gerettet? – Gerettet scheint jedenfalls Nikos Konstantakis in seinem letzten Auftritt. „Danke“ ruft er, unablässig „Danke, danke!“ Er schüttelt sogar einem der Zuschauer in der ersten Reihe die Hand. Und kehrt zurück auf die Bühne: „Yes! Yes!“ Mit einem energetischen Tanz gesellen sich die beiden überlebenden Damen zu ihm. Die (scheinbar?) Tote bleibt zunächst liegen. Und kehrt dann doch ins Leben zurück: Der Rahmen hängt ihr wie ein Mühlstein um den Hals.
Warmer Applaus, aber auch viel Ratlosigkeit im Publikum. Mit dem Angebot von „übergeordneten Zusammenhängen, die persönlichen Spielraum für den reflektierenden Zuschauer bieten“, hat Svetlana Fourer es sich selbst vielleicht zu leicht und dem Publikum zu schwer gemacht. Die famose tänzerische Leistung machte das nicht immer wett.