Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt
Ein Abend, der Grenzen auslotet: tänzerisch, musikalisch, thematisch und dabei den Blick kurioserweise immer wieder auf die Füße der Tanzenden lenkt. Und auf ihr Schuhwerk: von mächtigen Plateau-Stiefeln über High-Heels mit extremen Absätzen bis zu zierlichen Ballerinas mit glänzenden, um die Fesseln geschlungenen und zu Schleifen gebundenen Seidenbändern. Schuhe, die an den Boden fesseln oder über ihn hinausheben.
Das Programm bietet keine Uraufführung, es beginnt mit dem 2007 von Martin Schläpfer für das ballettmainz choreographierte Werk Obelisco – ein siebenteiliges Ballett, das seither nicht mehr als Ganzes aufgeführt wurde, das jedoch durch die Neubearbeitung bemerkenswerte Veränderungen erfuhr, sowohl tänzerisch als auch musikalisch. So definiert Schläpfer die Eingangsnummer völlig neu, indem er Rickie Lee Jones‘ lyrisch harmonischen Song Gostyhead durch den Road-Song Travel von Marla Glen ersetzt. Zur rauchig männlichen Stimme der Sängerin erscheinen drei Tanzpaare: übergroß auf ihren klobigen, sicher zwölf Zentimeter hohen Plateaus unter den geschnürten Lackstiefeln, in sternen-glitzernden Kostümen, bereit zur Reise durch die Nacht, die sich im ersten Bild in aggressiven Gesten von ihrer bedrohlich coolen Seite zeigt.
Doch schon in der zweiten Episode verbreitet sich mondnächtliche Poesie beim meditativen Tanz zweier Paare zur zeitgenössischen, titelgebenden Musik Il tempo con l’obelisco von Salvatore Sciarrino, der mit seinen Kompositionen „das Hören an einen Nullpunkt“ führen will. Und so lässt Schläpfer auch die Tanzenden in kontemplativer Langsamkeit die Bewegungsgrenze ausloten.
Traurig und zerbrechlich schließt sich daran an das Solo von Marcus Pei. „Du bist die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du“, singt Gundula Janowitz das von Schubert vertonte Rückert-Gedicht. Ein Bild inniger Poesie. Auf die Ruhe folgt in der vierten Episode ein an die konditionelle Grenze treibendes Furioso zweier Männer im Kampf um eine Frau zur d-Moll-Sonate von Scarlatti und anschließend ein Spiel um Leben um Tod zu Mozarts Fantasie für Klavier, gleichfalls in d-Moll.
Einen Solitär bildet die sechste Episode: sieben Minuten und sieben Sekunden tanzt Marlúcia do Mamaral Spitze ohne Absetzen, allein auf der Bühne, ins Extrem getrieben. Spitzentanz pur, reine Mechanik, gezeichnet von Perfektion und Anstrengung: eine liebevolle Persiflage! Am Ende der Reise durch die Nacht werden Yuko Kato und Friedrich Pohl, beide die nackten Beine in superhohen High Heels - eher grotesk als humorig – zur Operettenmusik Der Opernball von Heuberger im Chambre separée verschwinden.
Martin Schläpfer bietet eine Fülle faszinierender Ideen, und das Ensemble grandiose Spitzenleistungen, doch die Unterschiedlichkeit der gewählten Musiken schafft es für mich nicht wirklich überzeugend, die Teile dramaturgisch schlüssig in einer „mondnächtlich poetischen Aura“ zusammenzubinden.
Nach der ersten Pause folgt das Adagio Hammerklavier des niederländischen Choreographen Hans van Manen zu dem Adagio aus der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 („Große Sonate für das Hammerklavier“) von Ludwig van Beethoven. Da wird ein Traum wahr! Van Manen wählte 1973 für seine Choreographie die gerade neu erschienene Einspielung des Werkes durch Christoph Eschenbach, die sich durch eine ganz ungewöhnliche Langsamkeit auszeichnet. Eine Langsamkeit, die an die Grenze des Verstummens führt und so die „Essenz des Phänomens Adagio“ zeigt, so van Manen. Und diese Essenz der sich verströmenden Langsamkeit lässt er seine Tänzer verkörpern. Drei Paare, die Tänzerinnen im klassischen weißen Tüllröckchen, die Männer in weißen Hosen und nacktem Oberkörper, schweben zu dem ergreifenden Klagegesang des Adagios auf die Bühne. Was immer menschliche Begegnung ausmacht, zärtliche Sehnsucht, erotisches Verlangen oder angstvolles Bangen: in diesem Tanz, in dieser Einheit von Musik und Bewegung, in dieser Darbietung von Harmonie, Spannung und Perfektion wird es erlebbar.
Van Manen (geb. 1932), der die Arbeiten an diesem Ballett in Düsseldorf mit mehreren Besuchen begleitete, vertraut seit Jahren viele seiner Werke dem kongenialen Martin Schläpfer und seiner Kompanie an, die für ihre Arbeit dreimal hintereinander zur „Kompanie des Jahres“, der internationalen Kritikerumfrage des Ballettmagazins „tanz“ gekürt wurden und zweimal den Theaterpreis FAUST erhielten.
Nach der zweiten Pause ist ein schwarzer Vorhang gefallen und schon während wir unsere Plätze einnehmen, bewegt sich eine uns seitlich zugewandte Männergestalt in weißem Anzug mechanisch am Bühnenrand vor- und rückwärts. Marionettenhaft wendet er uns das bleiche Gesicht zu, verzieht den grellrot-geschminkten Mund zu einem grotesken Lacher und fährt endlos fort in der sinnlosen Bewegungsroutine. Es ist der Auftakt zur Tanz-Performance SH-BOOM! von Sol León und Paul Lightfoot, seit 2002 Hauschoreographen am Nederlands Dans Theater (Uraufführung 1994). Die erste Szene ist symptomatisch: in schwarz-weißen Bildern soll durch fratzenhafte Ironie und erzwungene Heiterkeit die Härte des Lebens deutlich werden. Ob das gelingt, ist die Frage. Männer in Schlips und Kragen entkleiden sich, mal bis auf die weiß-gerippte Unterwäsche, mal bis zur Nacktheit, die dann aber durch abgeblendetes Licht schamhaft verborgen wird. Daneben die Frauen in langer Gouvernantenrobe, kantig, komisch. Albern, klamaukig geht es weiter mit Schnulzen aus den 1920er und 1950er Jahren, mit parodierenden Nonsens-Texten und lächerlichen Karikaturen, die allerdings nicht die Absurdität des Lebens, sondern nur die Absurditäten dieser Aufführung zeigen.
Weder choreographisch noch inhaltlich gewinnt da etwas Gestalt. Das Publikum nahm es als komische Nummer und spendete für alles in allem begeisterten Applaus mit Standing Ovations.