Banalität und Terror
Verena Billinger und Sebastian Schulz haben schon als Jugendliche am Forum Freies Theater in Düsseldorf gearbeitet. Sie blieben dem Tanz und dem Theater treu – und machten eine erstaunliche Karriere. Der Durchbruch gelang dem jungen Choreografen-Duo spätestens im Jahre 2011 mit einem Sechs-Personen-Dauerkuss: In Romantic Afternoon knutschten drei Tanzpaare sich unablässig durch den Nachmittag, niemals die Lippen voneinander lassend, aber permanent ihre Positionen verändernd. In ihrer mal ironischen, mal melancholischen, manchmal aber auch ein Gefühl von Scham und Peinlichkeit evozierenden Performance stellten die Tänzer auch die Möglichkeit echter Gefühle in einer inszenierten Öffentlichkeit in Frage. Weitaus weniger romantisch war der zweite Abend, der überregionale Aufmerksamkeit erregte: Violent Event aus dem Jahre 2015 war genau das, was der Titel aussagt: eine Orgie der Gewalt, immer klar einer Verabredung zwischen den Tänzern folgend, aber doch bei aller Künstlichkeit beklemmend und brutal. Die performativen Forschungsprojekte von Billinger & Schulz begeisterten Zuschauer und Kritik, und seit dem Jahre 2015 genießt die freie Gruppe die Spitzenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Im Januar 2016 startete das Choreografen-Duo die Trilogie Unlikely Creatures. Im ersten Teil (who we are) geisterten fünf Tänzer(innen) als Elfen, Feen, Nymphen oder Monster durch die Szenerie. Sie zitierten Bilder der Tanzgeschichte, fragten aber auch „Wer sind wir?“, „Was ist normal?“ und „Warum gehen wir nie ganz in unserem Bild von uns selbst auf?“. Der nunmehr im Forum Freies Theater Düsseldorf gezeigte zweite Teil beschäftigt sich mit der Gegenwart: der Gegenwart in „unserer schönen, gelingenden Zeit, dem Hier und Jetzt“, wie es die Performer selbst ausdrücken. Ein schönes, gelingendes Hier und jetzt? Wenn das mal nicht triefende Ironie ist! Doch: We dance for you, heißt der Titel der Performance, und tatsächlich tanzen die Jungs und Mädels erst einmal für uns - ganz fröhlich, discomäßig und banal. Dass das nicht bis zum Ende so bleibt, versteht sich von selbst.
Die Choreographen sind mit Unterstützung des ausrichtenden und koproduzierenden FFT ins Museum umgezogen: in die Düsseldorfer Kunsthalle, in der noch wenige Tage zuvor die musikalisch-skulpturalen Arbeiten des Hongkonger Künstlers Samson Young zu sehen waren, die vordergründig ästhetische Forschungsprojekte sind, sich im konkreten Fall aber mit Bombardements und Kriegsszenarien auseinandersetzten. In Zweier-Reihen sitzen wir unmittelbar um den Tanzboden herum, ganz nah am Geschehen. Die Spielfläche wird von vier in den Ecken des Raumes platzierten Scheinwerfern beleuchtet – von einem „Fußballstadion-Konzept“ sprechen Billinger und Schulz. Ganz nah dran an den schwitzenden Körpern sollen wir sitzen und die Sportler bei der Arbeit beobachten: beim Tanz, beim Klettern, im Fitnessstudio – und in einer kakophonischen Geräuschkulisse, in die ausgerechnet Dieter Bohlen etwas Harmonie bringt. Schlagerseligkeit und Schlagzeugwirbel, Fitnesswahn, Trash und Trump prasseln auf uns ein. Aus den Lautsprechern tönen seltsame, oftmals akustisch schwer verständliche Wortfetzen, die eine eindeutige kritische politische Konnotation haben. Jemand mokiert sich über die „verlogene Parole von der Willkommenskultur“; wir hören – passend zur populistischen Musik – Aussagen wie „Ich bin kein Rassist, doch will ich es so, wie ich es kenne“. Wir hören Sätze typischer US-amerikanischer Selbstbeweihräucherung mit ebenso wenig Tiefgang wie sie die Musik zu Beginn bietet: („Our country is great because we are good“). Um den in einen halben Pullover und ein halbes Basketball-Trikot der Golden State Warriors gehüllten, in aller Seelenruhe bügelnden Alejandro Huari Mateus herum tanzen die übrigen Performer zu russischen Weisen: Alles ist irgendwie gleichzeitig und irgendwie widersprüchlich und scheint doch die Denk- und Lebensweisen von heute zu repräsentieren. Nachrichten erklingen – aus NRW, zum FFT (u. a. hypothetische Verrisse der soeben gezeigten Performance), zu Gerhard Richter, zu Syrien. Mehr und mehr schleicht sich eine Unschärfe in die Töne ein, die aus den Lautsprechern zu hören sind: Heißt es: „Sie reden überall“, „sie rennen überall“ oder „sie ringen überall“? Oder gar: „Syrien überall“?
Kaum merklich ist dieser Übergang von der Banalität zum Bürgerkrieg. Doch kaum haben wir erstmals „Syrien“ verstanden, ist von Terroranschlägen die Rede, von Toten am Flughafen und am Zentralbahnhof. „Wir haben soeben das Parlament verlassen“ heißt es, vermutlich ist es das Europäische Parlament, denn von Brüssel war kurz zuvor die Rede, vermutlich geht es um eine terroristische Bedrohung – aber wer weiß es schon genau? Alles bleibt bewusst im Ungefähren, nichts hat mit nichts etwas zu tun. Drei Tänzer liegen wie tot am Boden, aber getanzt und gebügelt wird weiter. Selbstverständlich ist die Verwirrung, die im Kopf des Zuschauers entsteht, exakt kalkuliert. Es geht Billinger & Schulz schließlich um die Gegenwart, und da stehen Banalität und Terror, Bohlen und Bomben, Showbusiness und Politik (Trump!), Kunstanstrengung und Sport irgendwie gleichberechtigt nebeneinander, und nichts davon scheint wichtiger als das andere. Das ist unfassbar unterhaltsam und doch eine düstere, pessimistische Bestandsaufnahme, verkleidet in süffiger Musik.
Mehr und mehr erleben wir, wie die Disko-Ekstase in Gewalt ausarten kann. Die ausgelassene Partystimmung, die über weite Strecken der Performance behauptet wird, schlägt in eine Atmosphäre der Bedrohung um – auch weil die harmlose Musik nun mit schmerzhaften Geräuschen übermalt wird. „Du hast mich tausendmal belogen / Du hast mich tausendmal verletzt / Ich bin mit dir so hoch geflogen / Doch der Himmel war besetzt“, trällert Schlagersternchen Andrea Berg. Der Himmel scheint tatsächlich besetzt; die Scheinwerfer flackern, Strobolight malträtiert unsere Augen, und bald ist die Schlagermusik vollständig von den unangenehmen Heuschreckengeräuschen überlagert. Ein Tänzer erscheint in schwarzrotgoldenem Shirt mit durchgestrichenem Bundesadler, eine Frau in einem Stars&Stripes-Anzug. Die Performance wird zur Apokalypse.
Blitze, Schüsse, Kriegsgeräusche – Billinger & Schulz schließen nahtlos an die Performance an, die Samson Young wenige Wochen vorher an gleicher Stelle zur Illustration seiner Ausstellung gezeigt hatte. Es ist frappierend, welche inhaltlichen und konzeptionellen Ähnlichkeiten bei aller unterschiedlichen künstlerischen Herangehensweise das Forschungsprojekt von Billinger & Schulz mit der vorher an gleicher Stelle gezeigten Ausstellung aufweist. Auch die Choreographen sind von einem ästhetischen Konzept ausgegangen und sind beim Krieg und bei Untergangsszenarien gelandet. Sie überwältigen den Zuschauer mit einer verführerischen, populistischen Ästhetik und entlassen ihn dann in einen rasanten, nicht minder überwältigenden Weltuntergang. Holla die Waldfee, denkt, wer den ersten Teil mit den schönen Elfen aus der Vergangenheit gesehen hat: Das also ist die Gegenwart? Wir sind gespannt, was die Zukunft bringt. Demnächst in diesem Theater – in Teil 3 der Unlikely creatures.