Übrigens …

Untitled: Persona im Festhalle Viersen

Nackte Niederländer

Um den Körper soll es gehen in seiner vor eineinhalb Jahren uraufgeführten Arbeit, sagt der Düsseldorfer Choreograph und Multimedia-Künstler Ben J. Riepe. Ja, tut es das nicht immer in sogenannten Tanz-Performances? Der Zuschauer ist gespannt, denn wer Riepe kennt, ahnt, dass, was banal klingt, möglicherweise komplex in der Rezeption ist. Riepe arbeitet in hohem Maße genreübergreifend: Stets balanciert er auf der Grenze zwischen Bildender und Darstellender Kunst; in seinen Tanz- und Musiktheater-Produktionen schafft er höchst ungewöhnliche Live-Bilder, Klang- und Objektskulpturen. Diesmal wolle er den Körper als Sinnträger und Projektionsfläche zeigen und „das dialektische Potential des Körpers“ freilegen, der uns als Subjekt und als Objekt diene, erläutert Riepe: „Wir haben einen Körper – und wir sind ein Körper.“ - Das klingt gar nicht mehr banal, sondern ganz schön verkopft.

Weiß man jedoch um diesen theoretischen Ansatz von Riepes Arbeit, wird man einfühlsam und phantasievoll auf die Reise zu den verschiedenen Funktionen des Körpers geführt. Zunächst einmal wird der Körper vorgestellt – als unser ganz alltägliches Werkzeug. Langsam, ohne Musik und Worte betreten die fünf Performer den Saal und gruppieren sich auf dem Parkettboden der von jeglichem Mobiliar freigeräumten Viersener Festhalle. Erst dann setzt kaum hörbar Musik ein, die sich ebenfalls ganz, ganz langsam steigert. Die Tänzer sind zunächst in ihre Alltagsklamotten gekleidet; entsprechend gruppieren sie sich zu alltäglichen Bildern aus ihrer Freizeit: Sie relaxen, sie tanzen, sie sonnen sich. Es sind Menschen wie du und ich in ihren Alltagskörpern. Doch dann setzen die Projektionen ein.

Die Tänzer setzen Papiermasken auf; die Musik mäandert von Diskomusik zu Chorälen, von fern erklingt Hundegebell – oder ist es Wolfsgeheul? Später glauben wir das Grunzen von Schweinen zu vernehmen – die Performer scheinen zu Gestalten aus Mythen und Mären zu werden. Kerzen werden angezündet – die maskierten Akteure bewegen sich zu dem harmonischen Sea + Air Song „Take Me For A Ride“ über die Tanzfläche, in dem die Sänger von einer neu entstehenden, besseren Zivilisation träumen, von „thunder and lightning that bring relief“ und „a burned out car with an engine still ready to start“. Die Lichttechnik sorgt für die Blitze, und jeder Zuschauer mag für sich entscheiden, ob diese die Harmonie des Liedes stören oder untermauern. Riepe jedenfalls lädt seine Bilder wieder und wieder mit Musik und Licht auf; Frank Sinatra und Igor Strawinsky, Pop und Wagner, pathetische Hymnen und lauter Rock wechseln einander ab. Wir wissen aus früheren Performances, dass Riepe nicht nur ein Meister der Harmonie, sondern auch ein Meister der Dissonanz ist. Doch bei Untitled: Persona spielt das Dissonante allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Die Bilder werden immer vielseitiger und phantasievoller. Riepe zitiert seine älteren Arbeiten mit den bunten Ganzkörper-Anzügen, er arrangiert großartige Formationen aus der Geschichte und der Kunstgeschichte, Brunnenfiguren, antike Skulpturen, vor allem aber ungeheuer stimmungsvolle Bilder, die an die alten niederländischen Meister erinnern. Humorvoll mischt er auch schon mal de Stile, zeigt Cowboy- oder Krimifiguren, mixt Pop und Historienmalerei, lässt Pferdegetrappel (passend zu den historischen Figuren) und das Mähen von Schafen hören. Bedrohlich klingt vom Band das Geräusch des Einfalls von riesigen Wassermassen.

In den letzten Szenen treten alle Tänzer nackt auf. Nur ihr Gesicht wird verhüllt von den eigenen Haaren: Dadurch wird der Blick des Zuschauers vollständig fokussiert auf die ungeheuer athletischen Körper. Später werden Tische und Stühle in den Raum gerollt, an denen die Tänzer ihre Haare nach hinten streichen: Die Enthüllung des Gesichts birgt erheblich mehr Erotik als der vorherige Blick auf die nackten Körper: So wird der Abend geradezu zu einer Art Selbsterfahrung beim Zuschauer. Fast wie bei einer rituellen Waschung kleben die Tänzer nun Tücher auf ihre unbekleideten Körper – wenn sie sie wieder abziehen, sind sie porentief rein. Sehr harmonisch zelebrieren die Akteure dieses Ritual, das eine fast religiöse Anmutung bekommt. Und dann wird das Licht hinunter gedimmt; Kerzen werden auf den Tisch gestellt, und die nackten Tänzer setzen altmodische Hauben auf, legen Stehkragen um: Erneut finden sie sich zu wunderschönen niederländischen Figurengruppen zusammen. Überraschenderweise haben die Bilder trotz der Nacktheit der Figuren eine streng protestantische, christliche Aura. Eine ungeheure Magie haben sie sowieso.

Am Ende erleben wir eine kleine Reise durch die Kunstgeschichte. Der Körper wird endgültig und im ganz realen Sinne zur Projektionsfläche. Gesichter werden auf die Körper projiziert, Königinnen und Straßenszenen, Künstlerfotografien, Models und Filmschauspieler. Der Körper nimmt die ganze Welt in sich auf; er ist die ganze Welt, und er ist ein Kunstwerk – nein: Er ist die Kunst. Im Einklang mit der Musik mag das Überwältigungstheater sein, aber so what? Es ist, was es ist: überwältigend.