Rossini einmal ganz anders
Zur Premiere vom Programm b.32 des Ballett am Rhein waren ins Düsseldorfer Opernhaus auch Musikfreunde in Scharen geströmt. Denn die Uraufführung von Martin Schläpfers abendfüllender Choreografie Petite Messe Solennelle versprach die Begegnung mit einer Rarität der Musikgeschichte, der Originalfassung von Rossinis „anderer," weniger bekannter sakraler Komposition als dessen Stabat Mater. Von dem alternden „König" der komischen Oper des 19. Jahrhunderts als Auftragswerk zur Weihe einer privaten Kapelle in Paris 1864 komponiert, ist schon die Besetzung ungewöhnlich. Eindeutig den äußeren Umständen des ersten Aufführungsortes geschuldet (und deshalb wohl auch später von einer Orchesterfassung ersetzt), erwies sie sich bei der Düsseldorfer Aufführung als ein Juwel. Filigran klingen die Einleitungen für zwei Klaviere (Wolfgang Wiechert und Dagmar Thelen), gelegentlich abgelöst von einem Harmonium (Patrick Francis Chestnut), das man ja bis weit ins 20. Jahrhundert für die Aufführung von Kirchenmusik in Kapellen und im privaten Bereich als Orgel-Alternative verwendete. Die den Gebetstexten entsprechende Intimität unterstrich Rossini durch einen Kammerchor aus jeweils vier Frauenstimmen, Männern und Kastraten (oder Knaben). Der Leiter des Düsseldorfer Opernchors, Gerhard Michalski, hat sich um dieses schlanke, frische Klangbild bemüht. „Glücklicherweise" passt in den Orchestergraben, wo alle Musiker unter der Leitung von GMD Axel Kober musizierten, ja auch nur eine kleine Schar von Choristen neben den vier Solisten (die leider mit reichlich opernhaftem Schmelz und Pathos sangen).
Dem zauberhaft ätherischen Flair der sakralen Musik, die zu Beginn des zweiten, kürzeren Teils der Aufführung durch zwei Klavierminiaturen Rossinis ergänzt wird (perlend vorgetragen von Eduardo Boechat), stellt Schläpfer ein lebhaftes süditalienisches Genrebild gegenüber, das nicht nur von fern an die sizilianische Atmosphäre von Pietro Mascagnis Oper Cavalleria rusticana erinnert. Florian Etti hat ihm eine grandiose, asymmetrische Gewölbe- oder Arkaden-Kulisse um die Tanzfläche (ein Dorf-Marktplatz?) entworfen und das große Ensemble in eine Vielzahl trister Alltagsklamotten von der kindlichen Latzhose bis zum Schürzenkleid einer alten Bäuerin gesteckt. Einzige Requisiten sind ein paar schlichte, helle Holzstühle, wie man sie etwa in modernen Kirchen findet. Die werden gestapelt und auch mal durch den Raum geschleift. Gereiht erinnern sie an Pina Bausch-Stücke - wie übrigens auch kleine Sequenzen der typisch eckigen Armbewegungen zu einer Stakkato-Passage gegen Ende der Messe Bauschs Tanzstil zitiert.
Ein recht steifer Pfarrer mischt sich immer wieder unters Volk. Eine alte Frau beobachtet mit stoischer Ruhe das Treiben von Arbeitsalltag und Feierabend. Eine junge Frau findet keine Gewissensruhe. Paare flirten und streiten sich. Mädelsgruppen und Jungencliquen profilieren sich. Das ganze 45-köpfige Ensemble drängt sich immer wieder zusammen auf die fast zu kleinen Fläche. Manchmal stampfen sie laut mit den Füßen, rennen und springen betont derb herum auf Hacke und Spitze.
Die liturgischen Texte zur Musik scheint Schläpfer völlig außen vor zu lassen. Nur die kompositorische Struktur - insbesondere Fugen und Kanons - deutet er an. Sein Ideenreichtum in der Bewegungsfindung ist noch immer unerschöpft, obwohl: immer wieder die gleichen klassischen Posen auf Spitze wirken ermüdend und mancher bewusste Kontrast kommt arg gewollt über. Insgesamt wirkt diese neue Choreografie des Schweizers zu erdrückend und dominant gegenüber der berückenden Feinheit der Musik.
Dass der Schlussjubel für die Musiker deutlicher ausfiel als für die Tänzer verwunderte deshalb wenig.