Nachwuchschoreografen in NRW
Immer mehr Tanzensembles an deutschen Theatern beschließen die Saison mit einem Programm, in dem Tänzer aus den eigenen Reihen erste Choreografien zeigen. Notwendigkeit und Bedarf für die Zukunft der Sparte sind seit Jahrzehnten bekannt. Vier Beispiele aus (und nahe) NRW zeigen die Vielfalt solcher Versuche - und Fallstricke. Größter Vorteil für die Neulinge ist die Vertrautheit mit ihrem "Material", den tanzenden Kollegen. Sie kennen deren Techniken, Kompetenzen und Persönlichkeiten. Auch haben sie selbst durch ihre tänzerische Arbeit Erfahrungen gesammelt, wie erfolgreiche Choreografen mit Raum, Zeit und Klang umgehen. Nicht zu unterschätzen ist die Möglichkeit, den "Apparat" des eigenen Theaters zu nutzen, inklusive der künstlerischen Leitung in beratender und betreuender Funktion.
Aber immer wieder zeigt sich: wenige haben wirklich das unabdingbare kreative Potential und die theatrale Power. Experimente sind, anders als in der freien Szene, in diesem Rahmen eher die Ausnahme. Entertainment und der Ausdruck individueller Gefühle sind Trumpf. Technik und Handwerk - im weitesten Sinn - stellen Jungchoreografen oft ein Bein, überfordern zumindest ihr Talent.
Ptah IV beim Aalto-Ballett
Unter dem Protektorat von Ptah, dem ägyptischen Schutzgott der Handwerker und Künstler steht das Essener Programm seit vier Jahren. Die fünf aktuellen Stücke, aufgeführt im Essener Grillo-Theater, "bedienen" das Publikum - gemäß der Maxime von Ballettdirektor Ben Van Cauwenbergh. Da zeigte Julia Schalitz zu Beginn recht brav eine Mädelsfreundschaft, und Igor Volkovskyy unterhielt zum Schluss mit einem Potpourri von Zirkusszenen aus seiner Heimat. Dazwischen nutzten Yanelis Rodriguez und Kevin Durvael die tänzerische Qualität der Truppe - oder die eigene, wie Qingbin Meng in einem rituell anmutenden Solo (für Ptah?), das allerdings über das Niveau einer Präsentation für eine Akademie-Aufnahmeprüfung nicht hinauskam.
Open Windows V in Osnabrück
Noch unbefriedigender präsentierte sich Mauro de Candias Dance Company Osnabrück in der (immerhin fünften!) Folge von Open Windows. Wie nach einem vorgegebenen Strickmuster konstruiert - mehr düster als hell, mit vielen, ermüdenden Pausen, dürftiger Beleuchtung und bewegungstechnisch völlig ohne innovative Akzente - ziehen die kurzen Stücke von Jayson Syrette, Ayaka Kamei, Keith Chin, Katherina Nakui und Lennart Huysentruyt vorbei. Da kann auch Charlie Chaplins Rede aus dem Großen Diktator in Cristina Commissos Silver Lining nichts mehr retten.
dance lab in Münster
Rundum stimmig dagegen kommt Münsters dance lab über. Unprätentiös in die Intimität des Ballettsaals verlegt, ist das Signal: hier probieren wir uns aus. Hier nimmt niemand ein Blatt vor den Mund, hüllt sich schon gar nicht in eine künstlerische Aura, sondern alle zeigen, was sie ausprobiert haben und teilen mit, worum es ihnen in ihren kurzen Tanzstücken geht oder freuen sich einfach an der Geschmeidigkeit der Kollegen. Viel blieb am Ende nicht übrig von Jason Franklins Kasperletheater mit mehr Mimik als Gestik in ...and all that was left. Nichts Neues auch beim Slapstick-Duett zweier Männer (Mirko De Campi, Alessio Sanna) von Maria Bayarri Pérez Dinner4Two oder Elizabeth Towles' The Weight of Breath. Von hoher Ästhetik und Harmonie dagegen war das Damen-Terzett Closer von Melanie López López. Den bei weitem mutigsten Beitrag der jungen NRW-Choreografen bot der Amerikaner Keelan Whitmore mit seinem Versuch, eine historische Minstrel Show, in der amerikanische Weiße im 19. Jahrhundert Vorurteile über Schwarze mit schwarzen Clownsmasken ironisierten, zu inszenieren. Die spartenübergreifende Pantomime mit Schauspieler Christoph Rinke als Erzähler mit schwarz-gefärbtem Gesicht spielte subtil sarkastisch auf weltweiten aktuellen Rassismus an.
Das Thema vieler Tänzer auf europäischen Bühnen greift Kana Mabuchi mit ihrem Zweiteiler Dear Freedom - Dear Memories auf: der strengen Kindheit in der japanischen Heimat (personifiziert von Alessio Sanna) folgt die tänzerische Befreiung in Europa, wo der Kimono sich symbolträchtig wie federleichte Schmetterlingsflügel ausbreitet (getanzt von Ako Nakanome).
Young Moves beim Ballett am Rhein
Den Zwiespalt eines Künstlerlebens zwischen zwei Welten greift in Düsseldorf So-Yeon Kim in 49 auf. Die Koreanerin nimmt darin Bezug auf die 49-tägigen Trauerrituale ihrer Heimat, an denen sie - im fernen Europa engagiert - nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters nicht teilnehmen konnte. Mehr als Mabuchi in Münster verlangt Kim in Düsseldorf Charakterdarsteller wie Yuko Kato als Witwe. Denn sie erzählt hier eine ganze Geschichte. In der Schlussszene - dem Tanz eines Engels auf den Bach-Choral Aus tiefer Not schrei' ich zu dir - vereint die Choreografin Fernost und Europa in berührender Weise. Wie mager wirkte danach das wenig witzige Finale East Coasting von Michael Foster.
Drei der sechs Düsseldorfer Choreografen verlassen sich ganz auf die überragende Qualität ihrer tanzenden Kollegen: stupende Präzision in synchronen neoklassischen Formationen geben Boris Randzios Andante Sostenuto Glanz. In Sonny Locsins Fourmis sind - wie in 49 - Camille Andriots Darstellungskunst und Technik gefragt. Erotische Ausstrahlung und artistische Brillanz von Marlúcia Do Amaral, mit unbestechlicher Eleganz und Zuverlässigkeit auf Händen getragen von Marcos Menha, im zweiten Teil von Chidozie Nzerems Edge of Reason - da wird Tanz zum Fest!
Tanz kommuniziert nicht von ungefähr besser, intensiver, aktueller mit den bildenden Künsten als die anderen darstellenden Künste. So entstand Walter Padaos Bühnenbild zu Wun Sze Chans No Destination live während der Aufführung. Dazu erklang eigens komponierte Musik der Düsseldorfer Formation Leopath. Getanzt wurde in theatralen Fantasiekostümen der Rheinopern-Kostümassistentin Hélène Vergnes - Attribute des fantasievollen und ästhetisch feinen Stimmungsbildes dieses staunenswerten „Gesamtkunstwerks“. Danach lag die Messlatte sehr hoch. Und wurde nirgends in NRW erreicht.