Daniel Barenboims Leidenschaft für den Tango
So ziemlich alles wird aufgeboten, was die Vernunft aus der Bahn schleudern kann. Erotik und Leidenschaft drohen ihr den Garaus zu machen, Begierde und Schmerz setzen noch einen drauf - auf das angekündigte „Feuerwerk“, das seit Jahren die Hauptstädte der Tanz- und Vergnügungswelt fasziniert. Es ist Giselle, deren Lebensgeschichte tief in tragische Tiefen reicht. Damit es nun aber auch wirklich die Emotionen des Publikums bis an ihre Grenzen kitzelt, ist dieses Mädchen von einem Zuhälter ins weltälteste Gewerbe getrieben worden. Ob da der Hafenarbeiter Lorenzo, der sie gleichwohl liebt, die Rettung aus dem Sumpf der Leidenschaften und ihres Sündenpfuhls schafft?
Leben und Tanz in den Kaschemmen von Buenos Aires
Eigentlich ist das kaum zu erwarten, reißt es Giselle als „Tanguera“ doch tief in die Untiefen der Kaschemmen und Teufelsclubs von Buenos Aires, wo Liebe, Leidenschaften und Verrat auf die im roten Kleidchen tänzelnde, scheinbar Verlorene machtvoll einwirken. Doch so verwirrend sich Giselles Schicksal auch entwickelt und sie im Zentrum der Story tanzt und liebt - neben und mit ihr ist der Tango selbst Thema der Truppe aus Argentinien, die mit der mehrfach preisgekrönten Choreographie des Tango-Stars Mora Godoy für sechs Tage im Rahmen des 30. „Kölner Sommerfestivals“ die Philharmonie der Domstadt zum Kochen bringen soll. Dass der große Meister der klassischen Formen, Maestro Daniel Barenboim, für die Truppe und ihre Präsentation als Schirmherr in Erscheinung tritt, ist da so was wie ein Ritterschlag aus dem klassischen Fach.
Aus der Tristesse Europas ins Land der Hoffnung
In Tristesse eingehüllt und zugleich voller Hoffnung auf eine neue Zukunft im „Land der Verheißung“ startet der Abend. Immigranten in grauen Klamotten gehen im Hafen von Bord. Eine eindrucksvolle Szene, ohne Beschönigung, düster und ohne Tanz. Als letzte, verschüchtert und ratlos, verlässt eine schmale junge Frau das Schiff, Giselle (Melody Celatti). Stockend, als ahnte sie schon jetzt, was sie erwartet. Ihre Schönheit und Anmut schlägt den Hafenarbeiter Lorenzo (Esteban Domenichini), der mit seinen Kumpanen tänzerisch seine Arbeit verrichtet, sofort in Bann. Sehr bald kommt freilich ein ganz anderer ins Spiel - der Macho, Gang-Chef und Bordellbesitzer Gaudencio (Dabel Zanabria).
Die Macht des Schmucks und männliche Gewalt
Mit Schmuck betört er scheinbar die schöne Blonde, vor allem aber ist Gewalt seine Welt. Er verführt sie - und zwingt sie zur Prostitution. Das weiße Kleidchen der Unschuld fällt von ihr ab, das rote der Verführung hält sie von nun an fest im Griff. Eine Unschuld ist sie immer noch, die sich zu wehren versucht - und schließlich sogar einen Sieg erringt. Einen Sieg freilich, dem der Tod den Triumph nicht gönnt: Lorenzo kann sie mit seinen Kumpels aus Gaudencios Fesseln befreien. Danach tanzen sie auf einer Wolke der Liebe ins vermeintlich unendliche Glück. Bis Gaudencios Machete diesen Traum brutal beendet. Eindrucksvoll, wie der tödlich verletzte sich ein letztes Mal aufbäumt, wie in einem Paradies jenseitiger Liebe noch einmal mit Giselle tanzt - und endgültig tot zusammenbricht.
Frauen als Spielfiguren männlicher Lust
Über 20 Tänzer geben der Geschichte ein vielfältiges Gesicht. Tänze aus Freude am Tango erzählen von dessen Körperlichkeit, Temperament und erotisierender Wirkung. Pas de Deux lassen ahnen, welche Faszination er auszustrahlen vermag. Doch es wird auch sicht- und spürbar, welche Kraft er besitzt, wenn sich Männer mit Macho-Gehabe seiner bedienen. Frauen sind Figuren auf einem Brett, dessen Spielregeln Männer bestimmen. Sie zwingen sie in die Welt der schönen Ware Weib. Die wiederum spielen dieses Spiel gerne mit - bis zum käuflichen Sex. Alleine Giselle erhält sich, selbst in ihrem roten Fummel, in der Hochburg der Käuflichkeit, eine Portion der Unschuld, die sie bereits bei der Ankunft in Buenos Aires auszeichnete.
Tanzwirbel bis zum Schwindel
Grandiose Szenen und Tanzformationen bieten Körperbeherrschung und Rhythmus-Gefühl auf höchstem Niveau. Da wirbeln die Paare über die Bühne, dass einem schwindlig werden kann. Und wenn Gaudencio Giselle wie einen Federball über die Tanzfläche jagt, sich dreht und sie dabei, als wäre sie Luft, um seine Hüften zu wickeln scheint, sie zum Spielball seiner Kraft und Lüste geraten lässt, ist das von mitreißender Kraft und höchster tänzerischer Perfektion. Eine Mixtur, die in Kölns Philharmonie nach 80 packenden Minuten die Menschen von den Sitzen springen ließ.
Köln Philharmonie; Aufführungen noch bis 20. August; www.bb-promotion.com