Übrigens …

Projecting [Space[ im Zentralwerkstatt Zeche Lohberg Dinslaken

Apokalypse vor dem Lagerfeuer

Ooohoo, it’s cold outside. Auf der Fahrt zur stillgelegten Zeche Lohberg in Dinslaken hatten heftige Regenschauer mich gezwungen, die Scheibenwischer des Autos auf die höchste Stufe zu stellen. Jetzt, an der provisorischen Kasse, fahren zwei Menschen auf dem Fahrrad an mir vorbei - in Bikini und Badehose. Die Performance hat schon begonnen.

Mehr als zwei Stunden später wärmen sich Publikum und Performer zum Abschluss an einem Lagerfeuer. Fünfzig Meter weiter steigt lilafarbener Rauch auf. Jozef Wouters, der Mann, der für die Bühneninstallation vor und in der Werkstatthalle zuständig ist, hatte gesagt: „Für mich ist der Sinn eines Lagerfeuers, dass man etwas aufbaut, das man vorhat zu verbrennen.“ Er bezieht sich dabei wohl auf eine frühere Aussage seiner Chefin, der Choreografin Meg Stuart: „Stell dir vor, (das) Theater wäre ein Ort, wo… Menschen zusammenkommen, um gemeinsam all ihre IKEA-Möbel zu verbrennen, in einer Art von rituellem Statement.“ - „Damaged Goods“ lautet passenderweise der Name von Meg Stuarts weltweit renommierter, aber auch oftmals polarisierender Tanz-Kompanie. Projecting [Space[ polarisiert nicht am heutigen Abend. Am Ende eines eher schwachen Ruhrtriennale-Jahrgangs werden Zuschauer und Fachleute zu der gemeinsamen Überzeugung kommen, dass diese grandios rätselhafte Performance zu den absoluten Highlights aus Johan Simons‘ Triennale-Zeit zählte.

Mag sein, dass Wouters‘ und Stuarts Statements helfen, den Abend zu entschlüsseln. Es soll um das Prekäre unserer Existenz gehen, um hilfreiche und zerstörerische Energie, um Geschichte, Aktualität und die Bedrohung der Welt durch den Menschen. Vielleicht auch um Mythen, sicherlich um Aufbau und Zerstörung. Aber man sollte sich nicht mit allzu viel theoretischem Ballast belasten, sondern sich einfach der Wucht und der Poesie von Musik und Tanz sowie den Überraschungseffekten der Bilder hingeben. Wie oft bezeichnen wir in unseren Rezensionen einzelne Szenen als mitreißend! Vergessen Sie’s. Mitreißend ist das, was Meg Stuart und ihre Kompanie uns in ihrem jüngsten choreografischen Geniestreich zeigen.

Zwanzig Minuten lang frieren wir draußen vor der Halle. Die Dame im Bikini wird sich bald oben ohne im Liegestuhl räkeln und von der ausbleibenden Abendsonne bescheinen lassen. In einem über und über mit Hippie-Klamotten bedeckten Ford Kombi ziehen sich ein paar junge Menschen um. Jemand reitet auf der Schaufel eines winzigen Schaufelbaggers; ein anderer lässt sich auf der Gabel eines Gabelstaplers spazieren fahren. Aus den Stromleitungen, die einst die Zentralwerkstatt der alten Zeche mit Energie versorgt haben, klingen sphärische, oft auch nur kratzende Töne. An der Route des Gabelstaplers liegt ein Toter. - Márcio Kerber Canabarro wird auf der Gabel in die Höhe gefahren. Gestochen scharf zeichnet sich sein Körper gegen den Abendhimmel ab. Er sieht aus wie ein Helden-Denkmal aus dem untergegangenen Sozialismus. Doch nein: Der heldenhafte Krieger legt sich nieder und blickt in die Welt hinaus, in die verlotternde urbane Welt einer aufgegebenen Zeche. Selten sahen wir pathetischere, schönere Industrie-Romantik.

Das Hippie-Paar auf dem Autodach hat sich derweil in Silberpapier eingewickelt. Besser: Es wickelt eine kleine Statue ein, die mit Blumen geschmückt ist. Später ziehen sich die Fordianer wieder um: „pour / un petit tour / un petit jour / entre tes bras…“ Das Bikini-Paar radelt im Kreis. Die Liegestühle stehen im gleißenden Sonnenlicht. Ich friere - das Licht stammt leider nur von einem Bühnenscheinwerfer. Sonja Pregrad bringt Eis; ihr Partner zieht sich dagegen eine Fellhose an: Die Tiere haben es besser in dieser Kälte, die mir längst unter die Jacke kriecht. Aber lange schon bin ich gefangen genommen von der bildersatten, surrealen Atmosphäre. Nothing happens, aber es ist ein Happening vom Feinsten. Und tatsächlich wirkt es wie ein rituelles Statement.

Der rituellen Statements werden wir an diesem Abend noch viele erleben. Sie werden die unterschiedlichsten Arten von Performance-Kultur, Spiel und Sport zitieren. Wenn wir endlich hineingehen in die Halle, schwingt ein riesiger Gummireifen bedrohlich an der Decke. Wir hören ein Schnauben wie aus einem Raubtierkäfig, in das sich später Vogelzwitschern mischt. Katzenhaft windet sich ein junger Mann am Gestänge eines riesigen Gerüstbaus empor - ist er einer dieser Löwen oder Leoparden, die wir hören? Die Tänzerin an meiner Seite trägt ein Ganzkörper-Kostüm, das an ein Tierfell erinnert; neben mir im Regal liegt der Mann mit der Fellhose aus dem Ford Kombi. Meg’s Menschenzoo… oder Meg’s Evolutionstheorie? Frau Stuart läuft zufrieden durch die Halle; später wird sie energetisch mittanzen. Manche Performer saugen offenbar aus den Händen ihrer Zuschauer Inspirationen für ihre eigenen Bewegungen. Hands… touching hands… reaching out: Zuschauer und Darsteller berühren einander an den Fingerspitzen und tanzen zeitlupenartig gemeinsam durch die Halle. Mittlerweile ahnen wir, dass es an diesem Abend um Energie gehen wird. Welche Energie mag fließen zwischen den Darstellern und ihren Gästen? - Im Publikum umarmt eine Mutter ihre Tochter, und Superman schwingt auf dem Gummireifen.

Die Tänzer - und mit ihnen Teile des Publikums - spielen miteinander wie Tiere im Zoo. Es gibt kleine Rangeleien, und mehr und mehr formieren sich die Tänzer zu choreografischen Gruppenbildern. Aus der Balgerei wird ein Kampf um die Oberhoheit in der Herde - oder ist es der Kampf gegen den Untergang im Evolutionsprozess? Entlang des Meeres, das auf einem großen Vorhang neben uns hergeschoben wird, ziehen wir um in den hinteren Bereich der riesigen Halle. Dort formen Tribünen eine kleine Arena. Vincent Malstafs großartige Klanglandschaften kommen zur Ruhe; nur noch das Summen der Generatoren ist zu hören. Wieder beginnt das Spiel der Hände - ein jeder bewegt sie auf individuelle Art. Wieder glauben wir in einem Zoo oder einer Tiergemeinde zu sein, ein Vogel Strauß springt an uns vorüber. Die Tänzer spannen ihre Körper an im Einklang mit dem an- und abschwellenden Generatorengeräusch. Hören wir da nicht die Turbinen eines startenden Flugzeugs?

Der Abend wird nun hochenergetisch. In jeder Ecke der Halle spielen sich kleine Szenen ab. Harmlose Spiele, erotische Tänze, dann vor Schmerz zuckende Körper. Tanz, Hektik, Rennen, Rock’n Roll - und ein Streben in die Lüfte. Es ist wohl die Flucht vor einer imaginären oder realen Gefahr. Man weiß kaum, wo man hinschauen soll, spürt nur die Kraft dieser dynamischen, von Entspannung zu Anspannung sich entwickelnden Aufführung. Anything happens - es ist ein Happening vom Feinsten. Und ein rituelles Statement.

In die Aufführung kehrt nun Ruhe ein. Finis Terrae - das Ende der Welt? Nein, nicht einmal das Ende der Aufführung. „It does not matter if you are sitting or standing“, rufen die Performer, „all you have to do is relax and try to focus… Just embrace the surrounding experience.“ Ein Paar geht mit dem Paraglider auf Fallschirm-Reise. Fröhlichkeit und Harmonie ziehen in die Lohberger Halle ein. Zwei Performer führen ein Gespräch über Transzendenz, über ihre Erfahrungen in einer anderen Dimension. In verschiedenen Nischen der Halle erleben wir unterschiedliche kleine Performances - ein Paar bläst sich gegenseitig bunten Kreidestaub auf die Körper, drei Tänzer vollführen in Zeitlupe streng choreografierte Bewegungen, und am entfernten Eingang der Halle wird ein riesiger Ballon aufgeblasen. Nach Entspannung und Anspannung befinden wir uns nun offenbar im meditativen Teil der Aufführung. Fundstücke unserer Genuss- und Abfallgesellschaft werden an die Sprecherbox geklebt: Strohhalme, Duplos, Medikamentenröhrchen, Stoff- und Papierfetzen und anderes wertloses Zeug. Jemand zieht eine Linie durch die Halle, verstreut Glitzermaterial und schüttet anschließend Wasser darauf; mit Kaffeepulver werden Symbole gezeichnet. „Can you read smoke“, fragt einer - und tatsächlich steigt Rauch auf. Roberto Martínez und Márcio Kerber Canabarro zeigen eine rituelle Waschung und malen sich blau an. Erklären Sie mich für verrückt, aber das Ganze entwickelt sogartige Atmosphäre - vielleicht hat die Vorführung von Glue Sniffing ja etwas mit der drogenartigen Wirkung der Performance zu tun.

Schließlich geht es zurück in die Arena. Und plötzlich ward die Erde wild und weit. Immer ekstatischer tanzen die Performer nun, immer wilder, immer rhythmischer, immer hirnwütiger, immer drogenberauschter. Die Musik erreicht schmerzhafte Dezibel-Zahlen. Es ist, vielleicht, das letzte Aufbäumen vor der Apokalypse, vielleicht der Schrei in der Katastrophe. Wer weiß das schon? Als Tanzabend ist es mitreißend, ist es toll, auch wenn das Ende erschreckend ist. Doch wir gehen ja noch gemeinsam ans Lagerfeuer. Dort gibt es die Standing Ovations nicht nur, weil wir ums warme Feuer stehen.