Das Ballett der Ballette in Essen
Essens Ballettdirektor Ben Van Cauwenbergh gönnt sich zum 10-jährigen Jubiläum publikumswirksamer Arbeit im Revier eine eigene Choreografie des berühmtesten Tschaikowsky-Balletts, die sich an das Original von Marius Petipa anlehnt und das Corps de ballet in den Fokus rückt. Das authentische Flair des 19. Jahrhunderts unterstreicht Dorin Gals Ausstattung. Schlossgarten und Terrasse (aus dem Opernfundus) liegen direkt an einem riesigen See mit Torbogen-Ruine, Entrée Zauberer Rotbarts zur High Society. Die Kostüme sind traditionell wie für eine Giselle. Die Schwäne trippeln in wippenden Tellertutus und sind mit dem historischen Kopfputz ausstaffiert.
Geschickt lässt Van Cauwenbergh die Tänzer des Divertissements schon im 1. Akt bei der Geburtstagsfeier des Prinzen auftreten. Dorthin hat sich auch eine Unbekannte mit Sonnenschirm und ganz in weiß - mit angedeutetem Federschmuck in den hinteren Rockpartien - verirrt. Auch kommt ein hocheleganter Beau in schwarz mit einer dunklen, atemberaubend Schönen am Arm zum Gratulieren vorbei.
Später, beim Ball im Schloss, stellen sich die potenziellen Bräute in Begleitung von Herren und viel Gefolge zur Musik der Nationaltänze vor - nicht so ganz logisch, bedenkt man die Situation, aber doch recht unterhaltsam gestrafft. Im Übrigen müssen die Akte Zwei bis Vier ohnehin nicht gesellschaftlicher Etikette und Logik folgen. Denn Prinz Siegfried ist am Ende seiner Geburtstagsfeier erschöpft im Garten eingeschlafen und träumt das Märchen - einschließlich seines hochdramatischen Todeskampfes in den wild brausenden Fluten des Sees. Auch träumt sich der eher blasse, blonde Jüngling gleich noch sein Traumaussehen dazu: markig männlich mit dunkler Lockenpracht sieht Liam Blair aus und ist ganz Edelmann im aufwändig dekorierten dunkelblauen Wams zum gleichfarbigen enganliegenden Beinkleid anstelle der braven hellen Kavaliersuniform. Überdimensional große Videoprojektionen deuten auf den Übergang von Realität zum Traum und schließlich zurück in die Wirklichkeit.
Die hohen technischen Anforderungen insbesondere in den beiden großen Pas de deux des Weißen und Schwarzen Aktes erfüllt der Australier mit Anstand. Wie sich's gehört geht der klassische Prinz der Primaballerina zuverlässig (zuweilen mit sichtbarer Anstrengung) zur Hand. Die ungewöhnlich hoch gewachsene Japanerin Mika Yoneyama - wie der Australier seit 2016 in Essen halbsolistisch engagiert, allerdings bereits aus ihrem Engagement in Bordeaux mit den großen klassischen Solopartien vertraut - beeindruckt als Odette/Odile durch feinste Technik, kommt hochkonzentriert über, aber leider ebenso kühl als Odette wie als Odile.
18 Schwäne hat die langjährige ehemalige Primaballerina der Deutschen Oper am Rhein, Monique Janotta, in den weißen Akten trainiert. Da wird sehr präzise synchron in langen Diagonalen und kürzeren parallelen Reihen getanzt. Nur in einigen Szenen, wo flankierende Reihen und Rundtanz in der Bühnenmitte zusammengehen sollen, entsteht ein eher undurchschaubares Gewirr - jedenfalls aus seitlicher Parkettperspektive. Technisch besonders vertrackte Passagen wie das rückwärtige Hüpfen auf einem Bein werden jeweils drei Halbsolisten übertragen. Große und kleine Schwäne absolvieren ihre legendären „Nummern“ voll konzentriert.
Ungarischen, polnischen und italienischen Nationaltanz choreografiert Cauwenbergh für kleinere Gruppen statt solistische Paare. Als zauberhaft graziös fällt die zierliche Yurie Matsuura im Pas de trois (mit Rodriguez und Jeyranyan) auf. Geradezu funkensprühend legen Yanelis Rodriguez und Armen Hakobyan den russischen Tanz aufs Parkett. Adeline Pastor und Aidos Zakan reißen Hofgesellschaft und Publikum im feurigen, pirouettenreichen spanischen Tanz voller athletischer Hebungen und Sprünge mit. Der drahtige Moisés León Noriega wirbelt als Rotbart mit wehendem, federbesetzten Cape über die Bühne. Davit Jeyranyan ist ein jungenhaft geerdeter Benno wie er im Buch steht.
Alles wird gut. Die inflationär bemühte Wertung „Weltklasse“ erwartet hier ja niemand. Lebendiger und unterhaltsamer als russische Tournéeversionen mit Musik aus der Konserve oder manche verkrampfte Neuinterpretation des Märchens ist Essens Schwanensee allemal. Es tut richtig wohl, wenn ein deutsches Theater das „Ballett aller Ballette“ auch mal wieder so nah wie möglich an die erste Erfolgschoreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow vom 27. Januar 1895 rückt und ein Orchester wie die Essener Philharmoniker (mit hervorragenden Solisten!) unter der Leitung des jungen Kapellmeisters Johannes Witt mit wohlklingenden Rhythmen und Melodien mehr als passabel begleitet.