Kampfkunst
Der Engländer James Wilton hat sich mit seiner 2010 in Cornwall gegründeten Truppe und als Gastchoreograph auch an kleineren deutschen Bühnen einen guten Namen gemacht. In Hannover gewann er immerhin den dritten. Preis. Sein Tanztheater setzt auf aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. Seine Technik entwickelte der passionierte Sportler, der an Londons School of Contemporary Dance ausgebildet wurde, aus Athletik, Kampfsportarten wie dem brasilianischen Capoeira und zeitgenössischen Techniken wie Contact Improvisation - ein Terrain, das in Münster bisher eher unbekannt war. Umso mehr staunt man über die unglaublichen Eskapaden, die das zehnköpfige Ensemble mit sekundengenauer Präzision vollführt.
Die Handlungsstruktur ist klar, der akrobatische Anspruch enorm. Beginnt die Rock-Klangkulisse zunächst harmonisch und sanft mit hellen Xylophon- und weichem Celloklängen, so entwickelt sie sich im Laufe der fünfundsiebzigminütigen Choreografie als Crescendo bis zu ohrenbetäubenden Disharmonien mit immer eindringlicher hämmernden afrikanischen Trommelschlägen.
Grau sind die Wände, schwarz der Boden - grau die losen Tops der zehn Tanzenden, schwarz ihre langen Hosen. Aber ganz und gar nicht eintönig farblos ist die Geschichte, die der Engländer James Wilton mit dem Tanztheater Münster erzählt - als Mahnung vor der heute so viel zitierten „Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und eine funktionierende Demokratie".
In perfekter Harmonie und Verspieltheit schart sich das Ensemble anfangs um einen etwa zwei Meter hohen, aufgepflanzten Bambusstab. Einer fängt ihn im Fallen auf, stellt ihn wieder in die Mitte. Ein Paar tanzt wie siamesische Zwillinge, andere tollen wie verspielte junge Hunde mit einander. Nur einer hockt mit finsterem Blick am Rand. Als er sich zu der eng zusammen stehenden Gruppe drängt, bleibt er ein Aussenseiter. Grimmig bemächtigt er sich des Bambusstabs, treibt die Gruppe vor sich her, trennt sie, schlägt durch die Luft.
Immer wieder stellt sich Eine dem brutalen Finsterling entgegen, weicht seinen Stockschlägen mit Salti, Hechtsprüngen, gedrehtem Sprung aus oder indem sie sich unter die Stange duckt. Die temporeiche, spannungsgeladene Kampfkunst von Elizabeth Towles und Jason Franklin ist der faszinierende Höhepunkt der Tanzinszenierung.
Was erst ein Spielzeug war - die Bambusstange - wird nun zur Verteidigungs-Waffe für alle. Aber der Tyrann zwingt seine Kontrahenten, die Stangen auf dem Boden zu Quadraten zu ordnen, sodass jeder in einer kleinen Zelle - kaum zwei Meter lang in der Diagonale - isoliert ist. Später zwängt er mit der Berührung durch seine Stabspitze zwei in Posen, in denen sie wie eingefroren verharren. Die anderen häufen die Stäbe zwischen ihre halb erhobenen Arme, lehnen sie gegen die Körper - bis das Gebäude zusammengebricht. Am Ende stehen alle beisammen - als die einträchtige Einheit, die sie einst waren, aber nun sichtbar verletzt und beschädigt, einander tröstend, eng umfangen. Erschöpft und geschlagen sitzt der Angreifer an der Rampe. Die Frau setzt sich ihm gegenüber, rückt auf ihn zu - gibt es nicht auf, ihn zu erreichen. Ein beklemmendes Gefühl heutiger Wirklichkeit und Hoffnung bleibt zurück. "Hold on", so der Titel von Wiltons Tanzstück – „Gib die Hoffnung nicht auf". Was Tanz heute alles kann. Hier ruft ein Choreograf in vielfältiger Kampfsportsprache zu Solidarität auf.