Die neue Kreation von Sasha Waltz
Zum zweiten Mal - nach Düsseldorf 2004 - ist eine Stadt in Nordrhein-Westfalen Gastgeber von Deutschlands wichtigster Tanz-Biennale, der tanzplattform in deutschland. Vom 14.-18. März versammelt sich in Essen alles, was Rang und Namen in der zeitgenössischen deutschen Tanzszene hat, und Gäste aus vieler Herren Ländern. Veranstalter und Festspielzentrum ist PACT Zollverein. Begegnung und Diskussion sind wesentliche Programmpunkte. Längst ist das Festival auch Umschlagsplatz für Agenten. Im Zentrum aber stehen die von einer Fachjury ausgewählten besten neuen Produktionen der letzten zwei Jahre aus Deutschland. 13 Stücke wurden ausgewählt - darunter aus NRW Momentum von CoconDance, Bonn, und The Way You Look (at me) TONIGHT von der behinderten Claire Cunningham mit dem Choreografen Jess Curtis aus Glasgow, Factory Artist am tanzhaus nrw Düsseldorf, sowie Claudia Bosses the last IDEAL PARADISE, entstanden als Teil der Serie eines Rechercheprojekts des theatercombinats im tanzhaus nrw Düsseldorf. Im Aalto-Theater und dem Musiktheater im Revier gastiert außer Konkurrenz Sasha Waltz' Kreatur, uraufgeführt Anfang April 2017 - zwölf Jahre nach der letzten Choreografie von „Sasha Waltz & Guests" für ihre Kompanie in Berlin.
Deutlich knüpft Waltz an eigene frühe Choreografien wie Körper an. Aber die vier Szenen von gesellschaftlichen Gegebenheiten und menschlichem Verhalten bieten wenig Neues. Da treten in weiße Vermummungen (wie Stahlwolle) gehüllte fast nackte Gestalten auf. Man bildet Paare, Cluster, gegnerische Parteien, drängelt sich - Reminiszenz an die Duisburger Loveparade-Tragödie - auf engem Treppenaufgang, schart sich um einen hölzernen Pfahl wie um einen Maibaum - oder eine Lanze. Ein schwarzes Stacheltier überfällt die „Kreaturen", die aufgereiht stehen, angstvoll aneinander gedrängt wie vorwärts stolpernde Gefangene auf dem Weg in die Strafkolonien oder Vernichtungslager. Das Bewegungsvokabular hat sehr viel von den verkrüppelten Körpern, wie Egon Schiele menschliche Seelennot zeichnete, und wird mit grandioser Virtuosität von den vierzehn Ensemblemitgliedern beherrscht. Spiegelnde Silberfolien verzerren menschliche Dimensionen, drapieren sie zu Tableaux wie auf einem konstruktivistischen Gemälde. Auf die optische Ästhetik versteht sich Waltz seit je.
Die Kostüme der niederländischen Modedesignerin Iris van Herpen, die Nanine Linning in ihrer Osnabrücker Zeit erstmals für eine Bühnenarbeit gewinnen konnte, sind allerdings denen nachempfunden, die Linning selbst für ihre eigenen Choreografien erfand, insbesondere für Synthetic Twin. Damals ging es Linning um die zwei Seelen in jedem Menschen. Mit faszinierenden animalischen Bewegungen fand sie wesentlich originärere Bilder menschlicher Verhaltensweisen im Konzert einzelner innerhalb der Gesellschaft als Waltz in Kreatur. Innovativ wirken die Formationen in Slow Motion auf den eher monotonen artifiziell industriellen Klangteppich von Soundtrack Collective - mit einem verfremdeten Tschaikowsky-Einsprengsel gegen Ende - jedenfalls nicht. Auch ist fragwürdig, dass hier zwischenmenschliche Liebe - im ersten Bild noch zärtlich angedeutet - zur unappetitlichen Sexorgie pervertiert. Optisch bietet Kreatur einen „modischen" Touch, auch dank des mitunter faszinierenden Lichtdesigns von dem Wahl-Berliner Urs Schönebaum. Zur visionären Avantgarde, wie man sie sich bei der tanzplattform in deutschland erhofft, gehört dieser Gastauftritt keineswegs - wohl aber präsentiert sich hier ein Bewegungskollektiv, wie es in Deutschland rar ist.