Ein atemberaubendes Kontrastprogramm
Gerhard Bohner (1936-92) gehört zu den Legenden des deutschen Tanztheaters. Mit seiner Verquickung von emotionsbetontem Ausdruckstanz und den stringent geometrischen Bauhaus-Studien nach Oskar Schlemmer hat er einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der künstlerischen Körpersprache und Bühnenraumgliederung geleistet. Aber in seinen letzten Lebensjahren wurde deutlich, dass dieser völlig unterkühlte Reißbretttanz nicht mehr zeitgemäß ist. Wie tragfähig sein Werk und Wirken heute überkommt, testet Bielefelds Tanztheaterchef Simone Sandroni mit dem neuen Vierteiler Past Forward. Ausgangspunkt ist Bohners letzte Choreografie Angst und Geometrie. Was für ein Titel allein! Lässt sich Angst denn mit Lineal und Zirkel vermessen? Petr Tyc, Tänzer der Berliner Uraufführung von 1990, hat die Rekonstruktion in der originalen Ausstattung von Andrea Schmidt-Futterer mit TANZ Bielefeld einstudiert. Anschließend demonstrieren drei Uraufführungen, was heutige Choreografen einerseits daraus zitieren können, andererseits anders machen. Ein atemberaubendes Kontrastprogramm!
Angst wird in Bohners Stück allenfalls zu Beginn der halbstündigen Theorie-Tanzstunde angedeutet, wenn Mädchen gebückt über die halbdunkle Bühne huschen. Danach tanzen sie mit regungslosen Gesichtern und wippenden mausgrauen Petticoats über rotglühenden Waden kreuzbrav in den Armen von Kavalieren in beigen Bürohengst-tauglichen Dreiteilern - Jacke, Hose, Weste. Die jungen Männer versuchen später, sich „hinterrücks" - auf dem Rücken vor der Holzwand von links nach rechts über die Bühne robbend - aus dem Staub zu machen. Dieses Bild kommt einem kafkaesken Alptraum am nächsten und taucht prompt in Lali Ayguadés Those Things That Are Hidden wieder auf. Was und wer Angst macht - davon spricht die hierzulande noch wenig bekannte spanische Choreografin. Gebückt, wie bei Bohner, treten zu Beginn auch hier Frauen auf. Die Holzwand ist nun oben gerundet wie ein romanischer Kirchenbogen. Man bekreuzigt sich, senkt den Blick. Später wird fröhlich getanzt, gelacht, geflirtet, gebetet. Mediterranes Leben pur. Schiere Lebenslust. Angst machen die unmenschlichen gesellschaftlichen Regularien, geometrisch starr. Eine wunderbar befreiende Replik - fast eins zu eins umgesetzt - ist das auf Gerhard Bohners blutleere Chiffren der Konfrontation von Emotion und mathematisches Gesetz.
Dass heutige Choreografen Bohners Idee von der absoluten Präzision wie in dessen von kammermusikalischen Dissonanzen begleiteten Zeitlupen-Studie am liebsten mit Techniken aus zirzensischen Künsten und Kampfsportarten umsetzen, zeigen vor allem die beiden anderen Uraufführungen. Sie setzen voll auf Tempo, Aktion, Emotion. Prequel (Fortsetzung... zu einem Stück zum Beispiel) heißt das Stück des Akrobaten- und Choreografen-Duos Tim Behren und Florian Patschovsky, das seit 2007 unter dem Label Overhead Project firmiert. Glitzer und Glamour, Dynamik und Sound wirken nach Bohners Stück wie ein klärendes Frühlingsgewitter nach düsteren Wintermonaten.
Zerrissene Herzen nennt Simone Sandroni sein Duett zweier Liebender. Alexandra Blondeau und Youngjun Shin legen ihre formelle Kleidung ab, bevor sie sich begegnen - tasten sich argwöhnisch zu einander vor, wittern die unwiderstehliche Aura - umgarnen, umarmen, bespringen einander mit Gewalt und Emphase. Animalische Leidenschaft gebändigt in der Präzision von Kampfsport treffen hier in hohem Tempo zusammen.
Unterstützt durch den Tanzfonds Erbe, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, ist dieser faszinierende ostwestfälische Tanzabend entstanden. Ein reichhaltiges Rahmenprogramm vertieft die tanzhistorische Dimension - inklusive eines Austauschs mit der Bremer Kompanie steptext dance project, die Bohners Zwei Giraffen tanzen Tango einstudiert hat.