Übrigens …

Unlikely Creatures III - us hearing voices im tanzhaus nrw

Schöne neue Welt?

Im Januar 2016 startete das Choreografen-Duo Verena Billinger und Sebastian Schulz ihre Trilogie Unlikely Creatures. Sie beschäftigten sich mit „unwahrscheinlichen Kreaturen“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im ersten, recht harmonischen Teil („who we are“) geisterten fünf Tänzer(innen) als Elfen, Feen, Nymphen oder Monster durch die Szenerie. Sie zitierten Bilder der Tanzgeschichte und schufen eine geheimnisvolle Welt. Dabei stellten sie die Frage nach Identität und Normalität, aber auch danach, warum wir nie ganz in unserem Bild von uns selbst aufgehen. Im zweiten Teil („we dance for you“; siehe hier)  begegneten uns die Unlikely Creatures der Gegenwart zunächst mit süffiger Schlagerseligkeit, bevor der Abend in einer Apokalypse endete. Wir erlebten eine mitreißende Performance - und die pessimistische Bestandsaufnahme einer Welt, in der Showbusiness und Populärkultur die gleiche Bedeutung erlangen wie Terror und politischer Machtmissbrauch. Im dritten Teil, der nun am tanzhaus nrw Düsseldorf gezeigt wurde, lauschen Billinger & Schulz Stimmen aus der Zukunft. Sie entwerfen drei grundverschiedene Szenarien, die in jeweils 75minütigen Performances gezeigt werden und unabhängig voneinander gebucht und besucht werden können. theater:pur war bei den ersten beiden Szenarien dabei.

Musik. Mit Latten bauen Kinder und Erwachsene rätselhafte Bilder, Holzstrukturen, die sie langsam durch den Raum tragen. Das heißt: um uns herum. Denn wir sitzen auf der großen Bühne des tanzhauses nrw auf einem kleinen Podest - mehr als 30 Zuschauer hat man nicht eingelassen - und blicken auf ziemlich viel Leere um uns herum. In einer Ecke steht eine Holzhütte. Sie könnte in einem skandinavischen Wald stehen oder ein großes Gartenhaus darstellen, dient aber den Performern zunächst einmal ganz profan als Umkleidekabine. Neugierig macht sie trotzdem - was passiert dort eigentlich wirklich, wenn die Tänzerinnen und Tänzer darin verschwinden? Auf der Spielfläche jedenfalls passiert nicht viel.

Vögel zwitschern. Aus den Lautsprechern klingt leises Meeresrauschen. Ein Performer sitzt sehr relaxt auf einem kleinen Teppich. Auf dem TV-Bildschirm blühen bunte Blumen. Billinger & Schulz wollen sich doch heute mit der Zukunft beschäftigen? Die Zukunft wird offenbar zur Idylle. Es herrscht Entspannung pur. Die Geschichte, die uns in englischer Sprache erzählt wird, spielt im Jahre 2300. Und sie erzählt von den wunderschönen blühenden Landschaften Grönlands. Aufgrund der idealen klimatischen Verhältnisse wächst und gedeiht die Insel hervorragend. Längst hat man Menschen aus Bangladesch und dem Jemen aufgenommen; man lebt in purer Harmonie. Der Weinbau floriert.

Kein Wort fällt über die Katastrophe, die über die übrigen Teile der (heute noch) bewohnten Welt hineingebrochen sein muss. Die jährliche Durchschnittstemperatur in Grönland ist seit dem Jahre 2000 um 9° C gestiegen, im Rest der Welt immerhin um 4,5°. Das Wild grast auf den Greener Pastures der grönländischen Idylle; Eisbären allerdings gibt es nur noch auf Gemälden. Die Menschen aber führen ein entspanntes Leben: Sie trainieren ihren Körper im Fitnessstudio, sie laufen Rollschuh auf innovativem Schuhwerk, ein Mann liest in einem Kinderbuch, ein Kind spielt mit einer ferngesteuerten Spinne. Was für eine heile Welt!

Doch das Meeresrauschen wird zum Grollen und zum Donner. Die Tänzer zerstören ihre Holzlatten. Die Kinder bewerfen einander mit ihren Büchern - eine Steinigung mit Resten der Hochkultur? Unermüdlich betreiben einige ihre Fitnessübungen, während andere auf der leeren Zuschauertribüne Möbel stapeln und eine seltsame Installation aufbauen - sind es Dämme gegen die Flut? Ein Mann und eine Frau tanzen - freudlos, roboterhaft. Abstrakte Bilder zucken über den Videoschirm, dann Raubtiere beim Fressen von blutigem Fleisch. Aus dem Hinterhalt fahren die Tänzer Attacken gegen ihre Kolleg(inn)en: heimtückisch, präzise, tödlich. Die Performer formieren sich zu rituellen Tänzen. Billinger und Schulz fragen who we are and where we come from - this is where we go: in eine archaische Welt, in der Rituale zählen und das Recht des Stärkeren. Sie hat sich entwickelt aus einer Welt der Langeweile nach dem Untergang nicht nur ganzer Kontinente, sondern auch der Arbeit. Wohin dann mit all der Kraft? Die Menschen benehmen sich wie Raubtiere. Und über den Bildschirm flimmern in Schwarzweiß Familienbilder aus den 50er, 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Küchenszenen, Bilder von gesitteten familiären Abendessen. - Die Blockhütte wird langsam abgebaut.

Auch der zweite Teil des Abends beginnt mit Musik. Dunkel ist’s: „Black is the color of my life.“ Es dröhnen die Motoren. Was wie ein Flugzeugmotor klingt, ist die Antriebseinheit eines Raumschiffs. Im Dunklen kommen Astronauten auf uns zu. Sie landen auf einem fremden, feindlichen Planeten. Geschichten werden gelesen, Texte von Brian Aldiss zum Beispiel oder Arthur C. Clarke, der für seine Vorlage zu Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ bekannt wurde. Irgendwie scheint die Mission aus der Kontrolle geraten: „Report to earth: Our spaceship was completely destroyed.“ Verzweifelte Astronauten kämpfen um ihr Leben. Der einzige Überlebende trifft auf Aliens, die der menschlichen Rasse weit überlegen sind. Sie nehmen die terrestrischen Eindringlinge gefangen, bilden sie aus, versorgen sie irgendwann mit neuer Kleidung. Sie stellen sich vor mit all den Eigenheiten ihres Alien-Daseins; die Tänzerinnen und Tänzer kleiden sich um oder ziehen sich aus und bemalen sich mit weißer, blauer oder schwarzer Farbe; einer hüllt sich in ein Blätterkleid. Der Planet, auf dem die Erdbewohner gestrandet sind, sei wie ein gigantisches Schiff, aber von vollständig organischer Struktur, erfahren die Astronauten. Und ist irgendetwas von der Erde übriggeblieben? Ja, antworten die Aliens, „nach euren Bemühungen, sie zu zerstören, wurde sie wieder regeneriert für eine neue, junge Generation.“  Die Aliens werden die Gestrandeten ausbilden. Sie werden sie lehren, Zelte zu bauen, in Wäldern zu überleben, und dann werden sie sie zurückschicken zur Erde. Einige der Aliens werden sie begleiten, um die Erde erneut zu besiedeln und urbar zu machen.

Und die Fortpflanzung? Die Aufführung zitiert aus der Xenogenesis-Trilogie von Octavia C. Butler, in der die Aliens zu der Erkenntnis kommen, dass sich das Geschlecht der Menschen auf keinen Fall fortpflanzen darf. Aber wir erfahren von einem dritten Geschlecht, von der Penetration durch die Tentakeln der Aliens und von der Möglichkeit, durch chemische Reaktionen sexuelle Ekstasen auszulösen. Wünschen wir uns, das auszuprobieren? Oh je, auch der zweite Teil des Abends ist eine eher erschreckende Dystopie vor dem Hintergrund ökologischen Gedankenguts.

Die kurze Zusammenfassung beider Teile dieses dritten Abends der „Creatures“-Trilogie mag den Eindruck einer spannenden, vielleicht gar rasant erzählten Geschichte erwecken. Tatsächlich entsteht die Spannung eher aus dem Nichtstun - und aus der unmittelbaren Nähe des Zuschauers zum Geschehen. Obwohl wenig geschieht und in beiden Teilen das Aktivitätsniveau der Performer jeweils erst ganz zum Schluss ein wenig anzieht, verfolgt man sie mit nicht erlahmendem Interesse. Allerdings hat der 3. Abend der „Unlikely Creatures“ weder die Poesie des ersten noch die Power des zweiten Abends.