Übrigens …

b. 35 im Duesseldorf Oper

Vom frühen Tanztheater zum modernen Ballett

Seit Jahren fühlt sich der freie Choreograf Ben J. Riepe in alten Fabriken, Ruinen und Museen wohl mit seinen Installationen und Performances. Nun aber kehrt er auf Einladung von Martin Schläpfer zurück auf die Bühne. Mit Spannung erwartet - und alle Erwartungen erfüllt hat der einstige Folkwang-Absolvent aus Düsseldorfs freier Szene mit seinem Stück Environment. Zu Deutsch: Umgebung, Umwelt, Umfeld. Die Bühne ist schon während der Pause offen einsehbar. Im Hintergrund türmen sich allerlei elektrische Apparate und undefinierbare Gegenstände. Schrott? Eine Müllhalde? Ein Mann in Frack und Zylinder stellt sich davor und rätselt wohl auch. Schließlich wendet er sich halblaut murmelnd seinen philosophischen Gedanken zu: „Livestream? Bewusstseinsstrom?"

Weiß vermummte Gespenster lenken ab von den Texten, die weiter aus dem Off tönen. Dramatisch schallt die elektronische Klangwolke (Sound-Design: Roman Pfeifer). Zwei putzige Männer in giftgrünen Overalls mit schwarzen Punkten (Kostüme und Bühne: Ben J. Riepe) bemächtigen sich eines ebenso grünen Vehikels - einer Art Ur-Rennauto und verpesten mit den (unsichtbaren) Abgasen die Gegend.... Barocke Gestalten finden sich ein, unappetitlich schmuddeliges Getier pellt sich aus schwarzen Panzern und stellt sein buntes, lustiges Innenleben zur Schau - wenn auch nicht die Gesichter, die mit gleichem Stoff, aus dem die Kleider sind, bandagiert wurden. Alle lassen sich an langer Tafel wie zum Abendmahl nieder. Der Übervater überragt alle. Man intoniert ein Konzert mit hölzernen Klöppeln. Vom Schnürboden fahren Stoffbahnen, machen den Raum immer kleiner und enger, vielleicht schließlich auch reiner: Vorn hängt eine lindgrüne Plane - jungfräulich wie eine Frühlingswiese.

Vom Schnürboden ist kurz zuvor das romantische Seestück „Wanderer über dem Nebelmeer" im vergoldeten Rahmen gekracht. Gischt schäumt um die Felsen. Dem Mann in Frack und Zylinder reißt die Wucht der gepeitschten Flut schier die Beine weg. Ahnte Caspar David Friedrich, dass die Natur irgendwann gegen menschliche Missachtung der Schöpfung revoltieren würde? Ben J. Riepe macht sich den symbolistischen Greifswalder Maler zum Verbündeten seines theatralen Statements über unsere Umwelt-Probleme. Dessen Mann auf der Felsklippe - vermutlich C.D.F. persönlich - hat er aus dem Gemälde geschnitten und lässt ihn verwundert über unsere Zeit sinnieren. Betrachtend geht er auf Distanz zur tosenden See, fragt wie zu Beginn verdattert: „Livestream? Bewusstseinsstrom?" Sich bewusst werden womöglich...... Ein grandios theatraler Kommentar über und für unsere Zeit ist Ben Riepe gelungen.

Environment wird umrahmt von einer neuen Variante von Ohad Naharins Decadance und Remus ?uchean?s neuem Ballett Abendlied. Schrill übersteuert brüllt die Melodie, die jeder mitsingen kann, durch den noch hellen Zuschauerraum: „Hava Nagila! - Lasst uns glücklich sein!" Entstanden ist die Idee zu "Decadance" zum zehnjährigen Jubiläum Naharins als Direktor der Batsheva Dance Company im Jahr 2000, montiert aus Ausschnitten seiner Stücke für diese Formation im ersten gemeinsamen Jahrzehnt. Mittlerweile hat Naharin Decadance vielfach modifiziert und mit Ensembles in der ganzen Welt einstudieren lassen (diesmal von Iyar Elezra) als unterhaltsam animierenden Cocktail seiner Philosophie von Imagination, Kunstfertigkeit und Leidenschaft, gemixt mit einem ordentlichen Schuss seiner gewitzt-witzigen Gaga-Technik und dem temperamentvoll poppigen Groove auf Pop, Jazz, ein bisschen Vivaldi-Klassik und Folklore.

Aus fünf Naharin-Stücken bietet diese Folge von Decadance Kostproben. Hell und heiter tritt die Schar der Tanzenden in Jeans oder Caprihosen und bunten T-Shirts barfuß auf und schafft eine Gute Laune-Atmosphäre zum Mittanzen-Wollen. Tatsächlich endet das halbe Tanzstündchen auch mit dem traditionellen „Welcome"-Finale, in dem einer die Arme weit ausbreitet, um das Publikum willkommen zu heißen auf der Bühne. Aber ein deutsches Landeshauptstadt-Opernhaus ist schließlich kein tanzhaus-nrw oder Kibbutz-Zelt, keine Zeche Zollverein. Der sich schließende Vorhang verschluckt den Animateur. Immerhin gehen die Zuschauer froh gestimmt in die Pause und mit Bildern wie dem von der mit stoischer Ruhe durch die tanzende Menge humpelnden Giraffe, Cassie Martín.

Wie vom anderen Ende der Bühnentanz-Geschichte beschließt Remus Sucheanas Abendlied das Programm. Großes Ensemble bietet er auf zu dem frühen Schubert-Trio Nr. 2 in Es-dur, gespielt von Alina Bercu (Klavier), Franziska Früh (Violine) und Nikolaus Trieb (Cello). Halblange, weichfließende und wehende Tüllröcke der Damen und enganliegende graue Ganzkörpertrikots der Herren unterstreichen den leicht verfremdeten neoklassischen Duktus der Choreografie. Kleine Gruppierungen dominieren mit schnellen Pirouetten, vielen Arabesken - kaum Sprüngen oder Hebungen. Irgendwann sondert sich einer ab, steht melancholisch, sinnend abseits.

Immer wieder klingt in der Musik das Todesmotiv aus Schuberts Quartett Der Tod und das Mädchen an Auch die Liederzyklen Die schöne Müllerin und Winterreise sind nicht fern. Aber der Choreograf kann sich nicht eindeutig zu einem der drei oft schon choreografierten Musikstücke bekennen. Unglücklich wirkt, dass ausgerechnet einer der grandiosesten Tänzer des Ballett am Rhein, Eric White, in die weitgehend halb-pantomimisch, statuarische Rolle des Melancholikers gezwängt wird, während die anderen ihn - mal in Schläppchen, mal auf Spitze - eher nichtssagend umtänzeln.

Es ist die zweite Choreografie des Rumänen, der seit dem Ende seiner Tänzerkarriere als Ballettdirektor und Leiter der Ballettschule am Rhein fungiert. Dem außergewöhnlichen Potential von Martin Schläpfers Kompanie wird Sucheana bisher nicht gerecht.