Zweiter Anlauf zu einem Neubeginn nach Pina Bausch
Fast neun Jahre nach dem plötzlichen Tod von Pina Bausch am 30. Juni 2009 unternimmt die neue Intendantin des Tanztheaters Wuppertal, Adolphe Binder, den Versuch, die legendäre Tradition fortzuführen. Die Deutsche, die als Tanzdirektorin in Göteborg international Aufsehen erregte, geht ihre Aufgabe ebenso kenntnisreich wie sensibel an. Schon allein mit den Neuengagements im Ensemble oder dominanten Besetzungen in Seit sie - setzen sie und Dimitris Papaioannou, den sie mit der Kreation eines Neues Stücks beauftragte, auf ein „Déjà vue" im besten Sinn. Beglückt feiern Bausch-Fans ein Wiedersehen u.a. mit Ruth Amarante (die im Finale minutenlang über rollende Röhren wandert), Ditta Miranda Jasjfi (die den entwurzelten Baum schleppt), Azusa Seyama, Julie Anne Stanzak (schöner und edler denn je!) und Michael Strecker (mit Bart). Breanna O'Mara ist bei dieser Premiere wie eine 2Tochter" Julie Shannahans. Papaioannou setzt ihre aparte Schönheit mit vier Verehrern, die sie mit Palmwedeln und Lorbeerzweigen als rothaarige Jugendstilschönheit umgarnen, hinreißend in Szene. Franko Schmidt erinnert an einen Zwitter aus Lutz Förster und Jan Minarik. Der kahlköpfige Russe Oleg Stepanov bringt das Charisma und die Bewegungsvielfalt von Dominique Mercy und Rainer Behr mit. Die zarte Ophelia Young strahlt die Aura einer koketten Bausch-Diva vom Kaliber einer Aida Vainieri aus. Scott Jennings fällt durch unbefangene Energie auf. 2Kolibri" Tsai-Wei Tien lässt ihre Füße flirren und fliegen wie Ditta Miranda Jasjfi ehedem ihre Finger.
So könnte die Zukunft des Tanztheaters Wuppertal nun beginnen. Erstmals eröffnete die Kompanie ihre Spielzeit 2015/16 mit neuen Stücken von hierzulande weitgehend noch unbekannten Choreografen. Bislang hatte man sich mit Stücken aus dem umfangreichen Bausch-Repertoire auf den traditionellen ausgedehnten Tournéen in alle Welt und bei den vertraglich vereinbarten, stets ausverkauften Auftritten in Wuppertal konzentriert, wobei auch offensichtlich viel Trauerarbeit diesseits und jenseits der Rampe geleistet wurde. Eine neue, aber nicht fremde Welt tummelte sich auf der Wuppertaler Bühne. Der Dreiteiler endete wie ein großes Zirkusfest, das nur leider eben auf fast jeder deutschen Stadttheaterbühne abgehen könnte, wie manche befanden.
Wie nah aber Pina Bauschs Revuen tatsächlich heutiger zirzensischer Kunst sind - oder auch: wie sehr Pina Bausch artistische Ensembles wie Cirque du Soleil oder Cirque Éloize beeinflusst hat, unterstreicht Dimitris Papaioannou mit Seit sie -. Souverän und wunderbar unverkrampft „zitiert" er im trauernd-düsteren Ambiente Bauschs Stücke - bis hin zu Requisiten wie den einfachen schwarzen Holzstühlen (u.a. aus Nelken und Kontakthof) und dem entwurzelten Baum aus dem letzten Stück ...como el musguito en la piedra, ay si, si, si.... Auch die Kostüme von Thanos Papastergiou - wunderbar wehende helle Battiströcke, elegante schwarz-goldene Abendroben und High Heels oder formelle schwarze Herrenanzüge erinnern an Marion Citos High Society Damen und Herren. An Peter Pabsts Bühnenlandschaften erinnern die anthrazitfarbenen Schaumstoffhügel von Tina Tzoka.
Zum Glück erschöpft sich beileibe nicht alles bei dieser Premiere in Bausch-Reminiszenzen. Artistische Kunststücke machen staunen - bis hin zur Abrundung im Finale, in dem der Stuhlreihen-Bauer des Auftakts, Michael Strecker, sich alle Stühle auf den Leib drapiert - bis das Konstrukt schließlich zusammenbricht. Was für ein Bild für den griechischen Sisyphos-Mythos vergeblicher Menschenmühen!
Papaioannou trifft den Nerv von Pina Bauschs Kunst und ihrer Anhänger in diesem Moment. Das sehr bewegte Premierenpublikum dankte mit stehenden Ovationen. Es bleibt die Frage: wie viel Pina Bausch-Handschrift muss sein, um der Legende „Tanztheater Wuppertal" nach der Ära Bausch gerecht zu werden. Vielleicht bietet das Neue Stück II dieser ersten Saison von Adolphe Binder, die Uraufführung des Norwegers Alan Lucien Oyen schon einen Hinweis in die richtige Richtung.