Schwanensee ohne See der Tränen
Endlich wieder eine Einstudierung des „Balletts aller Ballette" an der Deutschen Oper am Rhein. 1984 inszenierte Erich Walter, choreografisch unterstützt von Ruzena Mazalova, Schwanensee dort. 1991 stellte sich Heinz Spoerli als neuer Ballettdirektor mit seiner originellen Interpretation als unglückliche Liebesgeschichte im Ballettsaal vor. Zehn Jahre später zeigte Youri Vámos den verträumten Prinzen Siegfried als sich in sexuellen Fantasien an die Mutter klammernden Jugendlichen, der im Freitod Erlösung findet. Siebzehn Jahre später überrascht Martin Schläpfer nun im Opernhaus Düsseldorf mit Schwanensee als Uraufführung.
Schläpfer benutzt das ursprüngliche Libretto und dazu die originale Fassung von Peter I. Tschaikowskys Partitur für das Ballett. Das macht Sinn, ist diese Musik doch deutlich sinfonisch geprägt und verzichtet auf die typischen Bravoureinlagen wie die Nationaltänze, die mancher Zuschauer wegen der virtuosen Technik allerdings besonders schätzen. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Stabführung von GMD Axel Kober kosten alle Feinheiten von Intonation, Klangfarbe und Tempi aus, die der theatralischste aller romantischen Komponisten in dieses Märchensujet legte.
Während Schläpfer behauptet, auf einige wenige Akteure zu fokussieren und sie als heutige Charaktere zu zeichnen, wirkt die Handlung verwirrend und überladen. Da ist Odettes Stiefmutter - eine Zauberin, der Rotbart und eine Schar düsterer Schwanen-Bewacher zu dienen haben - die Unheilbringende schwarze Gestalt. Odettes Großvater steht als schweigend Schützender zwischen den Schwänen. Meist aber sind das handfeste Frauen in einfachen Kleidern mit derben Bewegungen der bloßen Füße oder in Roben, deren Röcke mit schweren Federkränzen besetzt sind.
Auf der düsteren Bühne hängen im ersten Akt leere Bilderrahmen gestaffelt. Später leuchten zwei himmelblau-wolkige Kuben im Raum. Ein grauer Felsbrocken ersetzt Rotbarts Kapellen-Ruine. Silbern glitzern Säulen zum Fest (Ausstattung: Florian Etti). Selbstredend bleibt von den beiden „weißen Akten" bei Schläpfer wenig übrig. Vor allem geht bei dem gewollten Realismus das geheimnisvoll Märchenhafte der Waldlandschaft mit dem (hier nicht existenten) See aus den Tränen von Odettes Großvater verloren. Da mag die Musik noch so oft lange Generalpausen einlegen.
Immerhin: mit Marcos Menha steht ein gleichermaßen technisch überragender Tänzer wie auch außergewöhnlich ausdrucksstarker, melancholischer Prinz Siegfried auf der Bühne, mit Marlúcia do Amaral eine hinreißend leidenschaftliche, verzweifelt hoffnungsvolle, kindlich verliebte Odette. Misslungen ist nach dem packenden großen Pas de deux des 4. Akts das (immer schwierige) Ende: da flüchtet Menha mit Riesenschritten, den schlaffen Körper der toten Odette auf Händen tragend, von der leeren Bühne in die Kulissen, während das Orchester die unvergleichlichen Wellen des Sees musikalisch malt. Das ist das krasseste Beispiel mancher unverzeihlicher Missachtung der theatralischen Musik.
Camille Andriot gibt die eiskalte, katzenhaft sprunghafte Odile - ganz das Ebenbild ihrer Mutter, der Zauberin, für die die wunderbare Young Soon Hue auf die Bühne zurückkehrt. Sonny Locsin (Rotbart) profiliert sich vor allem als diabolischer Begleiter von Odile zur Brautschau. Alexandre Simões tanzt Benno kraftvoll und frisch. Virginia Segarra Vidal - alternierend mit Monique Janotta, der einstigen Rheinopern-Primaballerina - gibt Siegfrieds Mutter, umsorgt von Zeremonienmeister Chidozie Nzerem. Das Paar wirkt - wie auch die drei potentiellen Bräute, so aristokratisch wie Schläpfer gerade nicht sein wollte. Von einer fernen Kelten-Gesellschaft spricht er. Das legt nah, wieso seine Bewegungssprache hier immer wieder so deutlich Mats Ek zitiert. Das Koboldhafte passt natürlich vorzüglich für die Bauernburschen und -mädels und sorgt vor allem für Furore in der Nummer der kleinen Schwäne, die sechs Männer, hoch in die Luft springend, bukolisch ungestüm geben.
Dass Schläpfer die High Society auf Spitze tanzen lässt, die anderen in Schläppchen, die Schwanenfrauen gar - teilweise jedenfalls – barfuß, kommt bei dieser Choreografie bei weitem nicht so logisch über wie etwa seinerzeit bei Giorgio Madias, der die weißen Akte auch wirklich in der ätherisch klassischen Artbarfuß tanzen ließ wie Petipa-Iwanow sie schufen, während bei Schläpfer eine nennenswert große Gruppe von „Schwanenfrauen" nur gegen Ende des Balletts tanzt - nur leider völlig ohne Charme.
Schläpfer wollte vielleicht einfach zu viel - choreografisch wie erzählerisch.