Das Unsichtbare getanzt
Dunkel, Genossen, ist der Theatersaal, sehr dunkel. So dunkel, dass wir die Hand vor Augen nicht sehen und Mühe haben, den Einschaltknopf des Nachtsichtgeräts zu ertasten, das man uns zuvor ausgehändigt hatte. Ohne das Gerät sehen wir: nichts. Mit ihm sehen wir: eine Art Urmenschen. Schemenhaft tastet sich ein nacktes graues Wesen auf der leeren Bühne voran; unsicher krabbelt es über den Tanzboden, kratzt, erspürt, steht auch ab und an auf seinen zwei Beinen. Der Tänzer – in manchen Vorstellungen ist es eine Tänzerin – könnte ein Lebewesen aus der Frühzeit des Menschen darstellen, ein Wesen auf der Schwelle zwischen Mensch und Tier: Homo erectus vielleicht auf dem Weg zum Homo neanderthalensis oder gar seinem Schwager, dem Homo sapiens.
Immerhin sehen wir eine Ganzkörperansicht dieses Wesens. Das wird so schnell nicht wieder vorkommen. Nach acht Minuten können wir das Nachtsichtgerät zur Seite legen. Eine Lichtleiste blendet zunächst, gibt dann aber in schmalem Querformat einen Blick auf die Bewegungen der Tänzer frei. Ausschnitte sind es nur, die wir erkennen, mal Unterschenkel und Füße, mal Unterarme und Hände, dann auch gebogene Rücken. Man ertappt sich bei der verzweifelten Suche nach einem Ganzkörperbild des einen oder anderen Tänzers. Im Verlauf der Aufführung, wenn das Licht unmerklich heller und der dem Blick freigegebene Ausschnitt unmerklich breiter wird, mag das einmal für Sekundenbruchteile gelingen. Die Rücken einzelner Tänzer scheinen das schwache Licht für Millisekunden zu reflektieren – aber vielleicht ist das auch ein Wahrnehmungsfehler, denn das wäre ja schon wieder contre contre-mondes, weil der Intention von Guilherme Botelhos jüngster Choreographie mit dem Ensemble der Genfer Compagnie Alias abträglich. Botelho inszeniert ein faszinierendes Spiel mit der Wahrnehmung und der Imagination seiner Zuschauer. Der zwar nicht in Düsseldorf, aber in Genf erhältlichen Beschreibung seiner Aufführung hat er ein Zitat des Dadaisten und Surrealisten Marcel Duchamp vorangestellt: „Ce sont les regardeurs qui font les tableaux.“
Diesen Satz Duchamps bezieht man heute allerdings reflexartig auf dessen Readymades. Die Bilder, die Botelhos Tänzer malen, sind jedoch alles andere als fertige, vorproduzierte objets trouvés. Bei „contre-mondes“ malt der Zuschauer eifrig mit – mit seiner Imagination. Sind es Menschen oder Tiere, die sich da bewegen? Oder sind es gar Maschinen? Wenn die acht Tänzerinnen und Tänzer in der vibrierenden elektronischen Soundscape des mexikanischen Musikers Murcof (Fernando Corona) Räder schlagen, wenn Arme und Beine sich unablässig in rasendem Tempo drehen wie die Räder einer großen Maschine, wenn sie in immer gleichbleibender Geschwindigkeit auf- und wieder untertauchen (stets sind nur die oberen Teile des menschlichen Rades zu sehen, während der Rest in der abgedunkelten Unterwelt verschwindet), weckt das Assoziationen an Fritz Langs mehr als 90 Jahre alten Science Fiction Stummfilm „Metropolis“. In ebenso gleichförmigem Rhythmus heben und senken sich die Rücken der Tänzer wie die Kolben eines Motors, und passend dazu erinnern die Sounds von Murcof ein paarmal an das Schleifen von Metall. „Tief unter der Erde lag die Stadt der Arbeiter“, heißt es in Langs „Metropolis“. Die Tänzerinnen und Tänzer schaffen eine eigene, seltsame, fremde Welt.
Wir wollen wissen, was unter der Erde ist, unter dem Blickfeld, das die Lichtleiste freigibt. Der Betrachter malt das Bild mit - und kommt wieder ab von der Idee des menschlichen Maschinenparks. Bei den Kolben könnte es sich auch um sich bewegende Tierherden handeln. Dabei ist es der Interpretation des Betrachters überlassen, ob er darin ängstlich sich zusammenrottende Herden in einem dunklen Wald oder harmonische Rudel auf ihrem Weg durch die Nacht sieht. Andere Zuschauer wiederum sahen in dem dunklen Feld, in dem die Körperteile der Tänzerinnen und Tänzer auf- und wieder untertauchen, einen Ozean, in dem Bartenwale sich rollen. Murkofs elektronischer Klangteppich scheint vordergründig künstlich und verfremdend, doch bedient er mit Geräuschen, die nach fernem Donner oder nach vorbeiziehendem Wind klingen, auch unsere Interpretation eines Naturschauspiels.
Für die Magie der Bilder, die uns an diesem mitreißenden, alle Sinne ansprechenden Abend verzaubern, sind nicht nur die Performer, sondern ist mindestens gleichwertig der Tänzer, Choreograph und Lichtkünstler Yann Marussich verantwortlich, der die rätselhaften, surrealen Körperskulpturen beleuchtet. „Weniger zu sehen, bedeutet besser zu sehen“, sagt Botelho. Stimmt das? Nun, weniger zu sehen, regt vor allem die Phantasie des Betrachters an. Botelho bezieht sich auf die skulpturale Kunst von Auguste Rodin, deren Ausdruckskraft häufig gerade in der Unvollständigkeit der dargestellten Körper liege. Den Titel „contre-mondes“ hat er einer ethnographischen Untersuchung über die Riten und Lebensweisen indigener Völker auf dem amerikanischen Kontinent entnommen. Ihre schamanisch geprägten Gegenwelten, die uns so rätselhaft, undurchschaubar und wenig greifbar erscheinen, haben Botelho fasziniert und zu einem Abend inspiriert, der den Zuschauer mit dem Unsichtbaren konfrontieren soll und ihn auffordert, das Sichtbare mit Hilfe seiner Phantasie zu ergänzen. Dabei ist ihm ein unvergleichlicher, höchst innovativer Abend mit gleichermaßen futuristischen wie archaischen Bildern gelungen. Mit einem neuen Hochgeschwindigkeitswirbel, mit fliegenden Haaren, wirbelnden Beinen und Standing Ovations enden 60 spektakuläre Minuten.