Übrigens …

Momentum im Asphalt Festival Düsseldorf

Mitgewippt

Gesichter haben die drei Echsen nicht, die da vor uns auf dem Tanzboden liegen. Stehend oder auf dem Boden sitzend, haben wir uns an allen vier Seiten rund um das Tanz-Karree platziert. Von hinten hören wir ein leises Pochen. Sensible Gemüter spüren bereits ein leichtes Vibrieren, nehmen bereits das Wummern wahr, zu dem sich dieses Pochen steigern wird. Alvaro Esteban, Werner Nigg und Daniel Morales, die drei Performer dieses nur vierzig Minuten kurzen Abends, liegen flach auf dem Boden, die Köpfe mit Tüchern oder Strumpfmasken verhüllt. Nur gelegentlich zucken ihre Körper.

Zunächst unmerklich, dann immer spürbarer wird das Wummern lauter. Die Zuckungen der Performer werden heftiger; sie steigern sich zu reptilienartigen Vorwärtsbewegungen. Zwei der Performer sind stets nah beieinander, ohne sich jedoch zu berühren; der dritte krabbelt auf der anderen Seite der Bühne herum. Und da: Der erste Tänzer hat sich kurz aufgerichtet; die anderen folgen sogleich. Heftiger, wilder, ekstatischer werden ihre Bewegungen – und nach ca. 20 Minuten stehen sie. Zeit, um Luft zu holen, um den Atem wieder zu kontrollieren. Denn es gab zuletzt keinen Moment Stillstand – weder im immer kraftvoller werdenden Bewegungsrhythmus noch beim immer stärker anschwellenden rhythmischen Sound. Lichteffekte verstärken die Wirkung der pulsierenden Musik.

Nach 25 Minuten beginnen die Performer miteinander zu interagieren. Es kommt zu ersten Berührungen. Der Schallpegel wird höher: Es sind immer die gleichen einförmigen Rhythmen, die auf uns eindröhnen, aber sie entwickeln einen unwiderstehlichen Sog. Die Füße meiner Nachbarin wippen schon im Takt; ich bemerke, dass ich mir längst unbewusst im gleichen Rhythmus mit den Fingern auf die Oberschenkel schlage. Die Tänzer verausgaben sich mehr und mehr: Es sind keine Sit-ups, sondern Stand-ups oder gar Jump-ups, die sie vollführen. Und: sie tanzen miteinander, mal alle drei, mal einer allen. Immer mehr verschärft sich das Tempo. Bisweilen grenzen die Bewegungen der Tänzer an Ekstase.

Plötzlich stehen die drei auf. Sie nehmen die Masken ab, suchen den Blickkontakt des Publikums. Die Reptilien sind nun endgültig zu Menschen geworden; die Tänzer treten zumindest ansatzweise aus ihrer Anonymität heraus. Sie tanzen uns an, manchmal hüpfen sie mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu, fordern uns heraus, ohne jedoch die Intimdistanz zu durchbrechen. Dennoch: Nunmehr interagieren sie auch mit uns. Geschätzte 80 Prozent der Zuschauer wippen längst mit: mit den Füßen, mit den Händen, mit dem Kopf oder mit dem Fächer, den manch vorausschauende Zuschauerin im Wissen um die gelegentliche Hitze-Entwicklung im Obergeschoss der Alten Farbwerke in der Ronsdorfer Straße mitgebracht hat.

Genau darum geht es der Choreografin Rafaële Giovanola: nicht um die Hitze, sondern um die unbewusste Interaktion mit den Zuschauern, um die Übertragung der Energie der Tänzer auf ihr Publikum. Diese gemeinsame Energie werde zum konstituierenden Moment der Inszenierung, behaupten die Performer. Der monotone, treibende Rhythmus von Franco Mentos elektronischer Komposition reißt mit – die Zuschauer „ticken“ sämtlich im gleichen Takt, und sie verbinden sich unbewusst zu einem gemeinsamen atmosphärischen Erlebnis mit den Tänzern.

Die aber verausgaben sich zu den pulsierenden Beats bis zur völligen Erschöpfung. Ihre Performance endet mit dem Schrei von Arbeitern, die sich körperlich total verausgabt haben. Für die Akteure steckt dahinter ein philosophisches Experiment: Sie berufen sich auf eine Beobachtung des französischen Philosophen Gilles Deleuze, der den Unterschied zwischen Ermüdung und Erschöpfung beschreibt: Der Ermüdete könne keine Möglichkeiten mehr verwirklichen, obwohl diese objektiv weiterhin bestünden. Der Erschöpfte hingegen sei nicht mehr in der Lage, neue Möglichkeiten zu schaffen, denn er habe bereits alles, was möglich ist, erschöpft. Das klingt möglicherweise ein wenig spitzfindig, muss uns aber nicht interessieren. Denn nach diesem vierzigminütigen Rausch sind wir hellwach statt ermüdet. Der Sog, den Musik und Tanz entfacht haben, lässt uns eins werden mit der Musik und der Bewegung. Ein Stück weit werden wir willenlos. Nicht genug, als dass wir nicht noch minutenlang stehende Ovationen darbringen können.