Formale Strenge und Individualität
Anne Teresa De Keersmaeker ist eine so aufmüpfige Lichtgestalt in der modernen europäischen Tanzszene wie Pina Bausch. Beide prangern Wahrheiten über moderne Lebenswirklichkeiten gnadenlos in hinreißenden Bildern an. Beider innovative Choreografien basieren auf der klassischen Danse d'Ecole und kritisieren gleichzeitig das seelenlose „klassische Ballett“. Aber die Flämin nutzt ganz andere Mittel, (zum Beispiel) weibliche Befindlichkeiten in unserer heutigen Gesellschaft zu analysieren, als es die geniale Choreografin aus dem Bergischen Land tat. Bausch signalisiert etwa das eklatante Ungleichgewicht von Wunschtraum und Wirklichkeit im Verhältnis zwischen Mann und Frau immer wieder auch durch die atemberaubend schönen Roben von Marion Cito (meist für die Damen entworfen, aber zögerlich-anrührend mitunter auch von den Herren übergestreift). De Keersmaeker gibt den Tanzenden mit dem rigiden Rhythmus minimalistischer Klänge den Rahmen für ihre Bewegungsmuster vor, um das Korsett gesellschaftlicher Zwänge für den Einzelnen anzudeuten. Mit Rosas danst Rosas perfektionierte sie 1983 diesen Kontrast erstmals und wurde weltberühmt. Eine Neueinstudierung des zeitgenössischen Tanzklassikers mit den vier Nachwuchstänzerinnen Laura Bachman, Léa Dubois, Anika Edström Kawaij und Soa Ratsifandrihana begeisterte gerade erst im tanzhaus.nrw düsseldorf und nun in Münsters Theater im Pumpenhaus.
95 Minuten dauert die vierteilige Studie, die den Tagesablauf von vier jungen Frauen zwischen der Strenge minimalistischer Klänge als Symbol für die Alltagsroutine und ihrer Individualität beschreibt. Die Perfektion synchroner Gesten und Posen zu dem metronomisch exakten Maschinenwummern oder minimalistisch wiederholten melodischen Motiven für Saxophon und Klavier macht staunen, ist aber auch Nerv tötend. Ungeduld kommt auf bei der ersten - langen - Szene zwischen Nacht und Morgen, Schlaf und Wachen, Ruhen und Tun(müssen). Da räkeln sich die vier Frauen, wiederholen wieder und wieder dieselben Armabwinkelungen, Liegestütze und erschöpftes Zusammensacken. Am Morgen erkundet eine nach der anderen den Raum. Nachmittags bewegen sie sich - von innen heraus glücklich strahlend - frei tanzend durch linear abgegrenzte Lichträume auf der Spielfläche. Schließlich nähert sich jede - mit stereotyp lasziven Gesten - einzeln dem Publikum an.
Entree und Finale gehen lautlos über die Bühne. In den beiden anderen Szenen gibt die extrem motorisch rhythmisierte Klangkulisse von Thierry De Mey und Peter Vermeersch die Tempi vor. Die Präzision der synchronen Bewegungen und die wunderbar unterschiedlichen Temperamente der Tänzerinnen machten den pausenlosen Abend im ausverkauften Haus bei der Premiere zum begeistert gefeierten Erlebnis.
Rosas danst Rosas bedeutet: wir tanzen uns selbst. Der Titel wurde zum Logo von De Keersmaekers Truppe. Ehrlicher kann Kunst nicht sein.