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Unknown Territories im Theater Münster

"Geändert hat sich nichts"

Neuland betritt das Tanz-Theater-Münster mit dem 80-minütigen Stück Unknown Territories. Auf Anregung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kultur entstand als Pendant zu der Ausstellung Bauhaus und Amerika (zum 100-jährigen Jubiläum der weltberühmten Schule der Künste) eine spartenübergreifende Produktion, die in faszinierender Ästhetik und hochaktueller Thematik die Bauhaus-Idee von der Entgrenzung der Künste durch theatrale Experimente weiterführt. Gleichzeitig schlägt sie eine Brücke zu den brisanten Themen Flucht und Emigration von der Zeit des Nationalsozialismus, der mit der Schließung des Bauhauses (Dessau 1932, Berlin 1933) viele Künstler in die Emigration zwang, hin zu heutigen Migranten aus aller Welt im bürokratisch verkrusteten Deutschland.

Münsters Tanztheaterchef Hans Henning Paar und Schauspieldramaturg Michael Letmathe, die Ausstatter Luis Crespo, Bernhard Niechotz und Sven Stratmann verknüpfen Bewegung mit Sprache, Aktionen mit Symbolen, skulpturale Elemente mit Videokunst über dem vielschichtigen, dezenten Soundtrack von Fabian Kuss. Zehn Tänzer und die Schauspieler Simon Mantei - ein Hüne aus Berlin - und Bálint Tóth aus dem münsterschen Ensemble sind die Akteure in weißen Overalls aus Ballonseide und schwarz glänzenden, enganliegenden Ganzkörpertrikots.

Moderne Lyrik bildet den roten Faden. Gleich zu Beginn das Statement: „Geändert hat sich nichts... der Körper zittert, wie er gezittert hatte...“ (Folter der polnischen Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska) und die zynisch-traurige Modulation von Wilhelm Müllers Gedicht aus der Winterreise: „fremd bin ich eingezogen unter meiner haut... ich weiß nur eins: fremd zieh ich wieder aus“ von Christoph W. Bauer. Zwischen abstrakten Sequenzen aus dynamischer Gruppenbewegung und faszinierenden Verfremdungen der Strukturen und Oberflächen von Crespos kolossalen, bizarren Eisbergen durch Stratmanns raffinierte Videokunst steht eine Handlung: Dialoge zwischen weiß gekleidetem Migranten und schwarz verkleideten, kahlköpfigen Bürokraten. Eindrücklich zitiert Paar Kurt Jooss' Antikriegsballett Der Grüne Tisch (das Ende der 1920er Jahre vom Vater des Tanztheaters in Münster entworfen wurde): die Riege der vier kriecherischen, maskierten Mächtigen kreuzt die Beine, stützt den Kopf geziert in die Hände, gestikuliert wie Jooss' Diplomaten, die viel palavern und dann das vernichtende Verdikt verkünden: Krieg! Und heute eben in der Amtsstube: Antrag abgelehnt!

Das Publikum muss viel verkraften. Aber es wird reichlich belohnt mit Stoff, aus dem große Kunst - ganz gleich, welchen Genres - jetzt sind und immer schon waren: sensible Wahrnehmung am Puls der Zeit.

Paar gelingt es wie bisher nie, die individuellen Charaktere und Talente seiner kleinen Truppe zu nutzen: das souveräne Bewegungsrepertoire von Elizabeth Towles, die Leichtigkeit der quirligen Maria Bayarri Pérez, den Witz Kana Mabuchis - die grandiose Gestik der herrlichen Hände Keelan Whitmores. Die Schauspieler begeistern mit ihrer klaren Deklamation - die Tänzer berühren mit kleinen Einwürfen in der Muttersprache und verblüffen mit exzellentem Deutsch. Mit dieser konzertierten Kunstaktion wächst das Tanz- Theater-Münster erfreulich selbstbewusst über sich hinaus.

Zusammen mit der Bauhaus-Schau, die am 9. November im LWL-Museum am Domplatz eröffnet wird und bis zum 10. März gezeigt wird, und einem Duett von zwei Gast-Tänzern in den Räumen des Kunsthauses hat Münster ein rares Kunstereignis zu bieten.