Ein Hip-Hop-Fest
Mehr als 100 Jahre alt ist Igor Strawinskys Ballettmusik Der Feuervogel. Der damals noch weithin unbekannte Russe komponierte sie in Paris für Diaghilews gerade formierte „Ballets Russes“ auf das Libretto seines Landsmannes Michel Fokin nach Motiven aus zwei russischen Märchen. Die Pariser Uraufführung 1910 begründete den Weltruhm der Truppe und gilt als Geburtsstunde des modernen Balletts.
Jetzt aber kommt Simone Sandroni daher und tituliert seine Choreografie Der Feuervogel mit Strawinskys Musik - man höre und staune - als „Uraufführung“. Nun ja - immerhin verwendet er für seine 50-minütige Aufführung anstelle der Originalpartitur für das abendfüllende Handlungsballett die „reduzierte Fassung in Anlehnung an die Instrumentation der Ballett-Suite 1945 von Henning Brauel“. An die Stelle von Fokins Konzept des hochvirtuosen Spitzentanzes, befreit vom strengen Ritus der klassischen Danse d'École, das die damals tanztechnisch revolutionäre Choreografie auszeichnete, setzt Sandroni auf heute modernste Techniken - bis hin zu Streetdance in seiner heute salonfähigen Form des „Urban Dance“, also nicht als Solodarbietung von Kopfstand-Pirouetten oder Electric Boogie mit zitternden Gliedern und Roboter Movements, sondern im Ensemble und mit handelnden Personen, die teils taktieren und teils agieren.
Statt eines blumenreichen Zaubergartens, in dem verzauberte Prinzessinnen sich goldene Bälle zuwerfen, sieht der Bielefelder Zuschauer Rudimente eines ehemaligen Vergnügungsparks. Girlanden aus bunten Glühbirnen sind die einzigen freundlichen Akzente der schauerlichen Geisterbahn. Hier treffen bei Nacht zwei Gruppen auf einander: eine harmlose Teenager-Clique und eine finstere Gruppe aus der Gothic-Subkultur. Bernsteins West Side Story mit heutigem Flair ist nah und dann wieder Mozarts Zauberflöte mit den Kontrahenten Sarastro, dem weisen, allmächtigen Retter (Feuervogel), und der Königin der Nacht (der „unsterbliche Kastschei“) als böse Intrigantin und Rivalin um die Macht im All - Symbole von Gut und Böse.
So klar allerdings zieht Sandroni die Grenzen nicht. Denn es ist ihm mitnichten daran gelegen, „ein Märchen“ zu erzählen. Ein Tanzmacher hört immer auch sehr genau auf die Musik. Und so gelingt dem Italiener in Bielefeld mit seinen klassisch oder modern geschulten Bühnentänzern von Tanz Bielefeld ein Hip-Hop-Fest, wie es „Urban Dance“ bisher wohl noch nirgends auf einer deutschen Bühne beschert wurde. Strawinskys Musik, vorzüglich gespielt von den Bielefelder Philharmonikern unter ihrem 1. Kapellmeister Gregor Rot, klingt wie gerade erst und speziell für diese „Show“ komponiert.
Die Koreanerin Gyeongjin Lee ist das hinreißende „Feuervögelchen“, der Italiener Tommaso Balbo der mächtige „Feuervogel“. Mit grausamster Brutalität quält er Zauberer Kastschei zu Tode. Noriko Nishidate ist seine ganz ähnlich gewandete Gegnerin als Gothic-Queen in schwarzem Samt mit grünen Accessoires. Zur Teenager-Gruppe gehören der sympathische Adrien Ursulet (Iwan Zarewitsch) und Elvira Zúñiga Porras (Zarewna). Mal Prinzessinnen und Prinzen, dann wieder Kastscheis Kreaturen mimt „das Corps“. Aber deren jeweilige Rollen sind eher verwirrend. Sie tanzen ganz wunderbar, was sie aus der Musik hören - ganz grandios vor allem Carla Bonsoms i Barra und der international erfahrene Hip-Hop-Virtuose aus Bielefeld Dhélé Agbetou.
Ein moderner Ballettklassiker als Hip-Hop-Fest - unbedingt hingehen: gucken, hören, staunen!