Grand Finale im Köln, Schauspiel

Feiernd dem Untergang entgegen

Der britisch-israelische Choreograph Hofesh Shechter gilt als einer der aufregendsten zeitgenössischen Künstler Großbritanniens. Das Schauspiel Köln hat in den letzten Jahren Gastspiele fast aller wichtigen Arbeiten seiner in Brighton ansässigen Tanz-Company gezeigt. Wer Karten für diese Gastspiele ergattern will, muss früh aufstehen: Längst ist Shechter zu einem der ganz großen Player in der internationalen Tanztheater-Szene geworden. Seine Choreographien haben eine unverwechselbare Handschrift. Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich lebhaft an seine erste Begegnung mit den mitreißenden, hammerharten Arbeiten des sympathischen Tanztheater-Berserkers. Es war bei Political Mother, dem Stück, das Hofesh Shechters Weltruhm begründete: mit Hitler, Stalin, Kim Jong Il und allen Foltern, die sie über die Menschheit brachten. Das war ohrenbetäubend, rasant, faschistoid - von der ersten bis zur letzten Minute packend, aber auch niederdrückend. Techno und Hard Rock vom Feinsten, irrsinnige Tänzer und eine fulminante Licht-Regie nahmen uns gefangen. Nichts für schwache Nerven, aber für alle anderen ein Ereignis, das sprachlos machte.

Wollte man Political Mother irgendetwas vorwerfen, dann wohl, dass die grandiose Performance durchgängig übertourt war. Grand Finale bearbeitet nun ähnliche Themen, hat eine ähnliche Dynamik und eine ähnliche Ästhetik, vermeidet aber diesen Fehler. Erstmals arbeitet Shechter auch mit klassischer Musik, mal vom Band, mal dargeboten von einem wunderbaren, unmerklich sich über die Bühne bewegenden Musiker-Sextett. Zu Beginn scheint da ein bisschen Beethoven anzuklingen, am Ende ist es Tschaikowski, zwischen durch immer wieder Lehar. Die Original-Partitur aber stammt – wie bei den Vorgänger-Stücken – von Hofesh Shechter selbst, der beim Percussion Soundtrack mit Yaron Engler zusammengearbeitet hat. Diese Mixtur wird zum Abenteuer: Permanent wird der Zuschauer zwischen verschiedenen Stimmungen hin- und hergeworfen. „Lippen schweigen“ aus Franz Lehars Lustiger Witwe wechselt sich ab mit harten, vibrierenden Techno-Rhythmen; arabisch anmutende Musikstile werden ebenso zitiert wie Folklore- und Volksfest-Klänge aus verschiedenen internationalen Kulturen; Klassik geht nahtlos über in elektronische Klänge aus Pop und Rock. Der Soundtrack dieses Abends scheint uns zu sagen: Hier seid ihr alle gemeint, die ganze Welt. Allein die musikalische Komposition dieses Abends ist magisch, mitreißend und manchmal auch schmerzhaft. Die ganze Welt feiert immer wieder Partys, aber was hängen bleibt von diesem Abend, sind die anderen, die apokalyptischen und kriegerischen Szenen, die Szenen von Gewalt und vergeblichen Versuchen der Hilfeleistung. Das Licht spielt bei Shechter stets eine wesentliche Rolle; Bühnenbildner Tom Scutt und Lichtdesigner Tom Visser haben für Shechter daher bewegliche schwarze Raumteiler auf die Bühne gestellt, deren Verschiebung großartige visuelle Effekte ermöglicht.

Musik, Licht und der ungeheuer präzise, die Performer bis an die Grenze ihrer physischen Leistungsfähigkeit fordernde Tanz machen den Abend zu einer mitreißenden Performance. Aber worum geht es inhaltlich? Shechter weigert sich, dazu Auskunft zu geben – und tut es doch. „Das Spannende … ist, dass es dieses Gefühl gibt, die Dinge gerieten außer Kontrolle, ein Gefühl von Panik und Aufregung“, sagt der Choreograph. „Alles bricht in sich zusammen, aber es hat etwas sehr Festliches. Es sind chaotische, apokalyptische Zustände, die dennoch etwas Unterhaltsames haben … Die Dinge brechen zusammen, und dann bauen wir sie wieder auf.“ So also erklärt sich Lehar, zu dem Shechter das Publikum im Anschluss an grausamste apokalyptische Szenen tatsächlich zum Schunkeln bringt. Die Gesellschaft, die an diesem Abend porträtiert wird, ignoriert die Gefahr und taumelt feiernd dem Untergang entgegen. So aber erklären sich auch die Zitate von Fernseh- oder Pressebildern: Eine zusammengesackte Leiche auf einem Stuhl zum Beispiel wirkt wie ein nachgestelltes Pressefoto; ein Leichenberg, bewacht von zwei Soldaten, weckt unangenehme historische Erinnerungen. Wir erleben Folter, Missbrauch und abgestumpfte Amoralität sowie krasse Brüche: Da gibt es poetische Bilder mit Seifenblasen, gefolgt von tableaux vivants oder besser natures mortes mit toten Menschen; zum melancholisch-schmelzenden Walzer wird unter Siegesgeheul eine Frau über den Boden gezogen und wie eine Trophäe in die Luft geworfen. Tanzende Performer erstarren mit weit aufgerissenen Mündern im Augenblick einer scheinbar gerade hereinbrechenden Katastrophe. Dann bauen wir alles wieder auf? Sorry, Mr. Shechter, in dieser Welt, die Sie uns zeigen, herrschen nicht nur Konfusion und Kontrollverlust. Die Performance erscheint als zutiefst pessimistischer Blick auf eine Gesellschaft voller Terror und Gewalt. Hinreißend.

Hofesh Shechters grandiose, bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift tanz zur Tanztheater-Inszenierung des Jahres gekürte Inszenierung gastiert am 31. Mai und 1. Juni 2019 bei den Ruhrfestspielen. Unbedingt hingehen!