Eine Winterreise, die alle Sinne fordet
Franz Schuberts Winterreise hat sich längst zu einem Gesamtkunstwerk für die Bühne entwickelt. Der unerreichte Liedkomponist vertonte in seinem letzten Lebensjahr, 1827, in zwei Etappen Wilhelm Müllers 24 liebes-bekümmerte und todes-ahnende Gedichte. Hans Zender, Jahrgang 1936, ergänzte die Gesänge 1993 durch seine Orchesterfassung als „komponierte Interpretation" mit Vor-, Nach-, Zwischenspielen und unterlegten Klängen in lautmalerischer Instrumentation zu den unverändert gesungenen Melodien. Das Sinfonieorchester Münster musiziert vorzüglich unter der Leitung von Kapellmeister Thorsten Schmid-Kapfenburg. Hans Henning Paar schuf 2010 auf Zenders Schubert-Interpretation - wie KollegInnen von Heidrun Schwaarz bis John Neumeier - eine zweiteilige Choreographie, die er jetzt mit seinem TanzTheater Münster neu einstudierte.
Zwischen den sehnsuchtsvollen Gesängen über Heimatlosigkeit, Einsamkeit und Liebeskummer einerseits und den Todesankündigungen von Krähe (Kana Mabuchi) und Leiermann (Tarah Malaika Pfeiffer) andererseits hat Paar sinnvollerweise eine Zäsur gesetzt, wenn auch abweichend von Schubert erst nach dem 13. Lied Die Post, wo er erstmals die Todesboten Krähe und Leiermann in einem Pas de deux auftreten lässt als geniale Überleitung vom Alltag mit Liebesschmerz zum Lebensende.
Die Pause tut dem Werk, den hochmotivierten und wunderbar individualistischen Tänzern wie auch dem Publikum gut. Denn Schuberts delikate Kammermusik, aufgeplustert durch Zenders Klänge und Paars Bewegungen fordern alle Sinne.
Isabel Korks Kostümentwürfe hat Paar aus der Münchner Einstudierung übernommen: die unbefangenen jungen Leute von heute in unisex-pastellfarbenen T-Shirts und langen Hosen, dann die High Society ganz in schwarz - verklemmt in Gestik und Gehabe beim Gesellschaftstanz im gläsernen Kubus jenseits der nüchternen, eisigen Leere des Sängers (wie in München 2010: Robert Sellier - jetzt stimmlich weicher und wärmer) und seines wandernden Alter Ego (Tänzer: Jason Franklin), beide barfuß und ganz in beige-weiß. An der Stelle des Glaskäfigs klafft im zweiten Teil auf der Hinterbühne ein schwarzes Loch als Symbol für „die Straße...., die noch keiner ging zurück" (Bühne: Bernhard Niechotz) und alle werden zu bizarren Todesboten.
Von den Rängen hat man einen vorzüglichen Blick in den Orchestergraben und sieht den Besen, der über das Trommelfell schrappt, dass es klingt wie Schritte im knirschenden Schnee. Die Intimität des klassischen Streichquartetts bezaubert. Die romantische Harfe begleitet zirpend die frühlingshaften Nebensonnen. Kastagnetten, Xylophon und das forsche Martellato der Streicher tönen zum letzten Aufbäumen in Mut. Folkloristisches Akkordeon, harsches Klappern eines Holzklotzes, die protzigen Bläser setzen parodistische Akzente. Schrill chaotische Dissonanzen deuten auf einen innerlichen Todeskampf, wenn Tarah Malaika Pfeiffer im Leiermann den - wie versteinert regungslosen - Wanderer im langsamen Ritual entkleidet und nackt aufs Leichentuch bettet.
Danach rennt die Jugend, wie zum anfänglichen Gute Nacht! wieder unbekümmert durch den Raum - und erkennt schließlich in panischer Angst die Nähe des Todes, dem niemand entkommt. Hans Henning Paar ist eine Choreografie mit einigen sehr starken Szenen gelungen.