Eugenspiegel reloaded
Martin Schläpfers neues Ballett Ulenspiegeltänze ist ein ästhetisches Gesamtkunstwerk, geschaffen von drei Meistern ihres Metiers: ein betörend aktuelles Plädoyer für zeitgemäßes Ballett dank Schläpfers choreografischer Eleganz, poetisch durch Keso Dekkers video-angereichertes Ambiente und theatralisch funkelnd akustisch untermalt von Sergej Prokofjews 7. Sinfonie mit ihren betont rhythmischen, lautmalerisch instrumentierten „Cinderella"-Zitaten.
Womöglich hat Daniel Kehlmanns neuester Bestseller Tyll Schläpfer inspiriert. Der Literat hat den legendären Narren als kritischen Beobachter und Kommentator gesellschaftlicher Gepflogenheiten, die heute wie damals gelten, stilisiert. Kehlmann jongliert in seinem Roman mit geschichtlichen Episoden aus dem Dreißigjährigen Krieg wie sein Tyll mit bunten Bällen oder Steinen und konterkariert die heikle Balance zwischen Kriegs- und Glaubensnöten ehrlicher Leute (Tylls Vater Klaus Ulenspiegel) und skrupellosen Vernichtungsfeldzügen der Mächtigen an Europas Höfen und Inquisitionshochburgen mit den Seiltänzen des schlitzohrigen Gauklers.
Schläpfers Eulenspiegeleien folgen choreographisch weitgehend den musikalischen Rhythmen von Prokofjews Musik, sind politisch kommentierend eher mager, überzeugen aber durch ihren menschlich anrührenden Charme - personifiziert durch Yuko Kato, die symbolisch den Zuschauern, eher bittend als provozierend kritisch, den Spiegel vorhält.
Keso Dekkers anfangs verschwommener Mond zwischen den kahlen gebogenen Birkenstämmen - diesem immer garantiert berührenden russischen Symbol für menschliche Melancholie - ist zum Schluss ein schwarzer Punkt, in dem für Minuten das gemalte Konterfei von Stalin erscheint.
Dieser unvermittelte Hinweis auf die sowjetische Diktatur zur Lebenszeit der beiden russischen Komponisten dieses Ballettabends ist allerdings eine kaum nachvollziehbare Klammer von Schläpfers Ballett zu dem Auftakt dieses fast drei-stündigen Dreiteilers mit Remus Sucheanas Sinfonie Nr. 1 - einer Erinnerung an den sowjetischen Militarismus, choreografiert auf die bei vielen Musikern und Konzertbesuchern zu Recht ungeliebte 1. Sinfonie des Klavier-Virtuosen Sergej Rachmaninow. Da nützt es auch nichts, dass alle Tänzer, brav aufgereiht auf der Hinterbühne vor dem dunkelgrün schimmernden Eisernen Vorhang, in die Versenkung fahren.
Wie unterhaltsam war zwischen diesen „russischen" Balletten William Forsythes kurze Impression eines wilden Bienenschwarms um eine derangierte Wabe. One Flat Thing. Reproduced von 2003 antwortet - vielleicht - auf die Stuhlreihen des deutschen Tanztheaters mit fünfmal vier banalen Metalltischgestellen. Nur das Original hat eine hässliche Spanplatte obendrauf. Die Reproduktionen schimmern opak aus Kunststoff. Forsythes Choreografie ist auch im Kontext dieses Programms ein Tanzstück für Weltklassetänzer auf Thomas Willems pulsierenden Soundtrack als Taktgeber für individuelle Posen, Gesten und Interaktionen.
Fazit: b.38 ist ein Triumpf zeitgenössischer Tanzkunst. Die Reanimierung der mittelalterlichen Figur des „Entertainers" Till Eulenspiegel als politischer Mahner bleibt eher blass. Viel stärker berührt Forsythes hektische Orientierungslosigkeit eines verstörten Volkes.