Tänzer sein ist „Different"
Münsters kleines, rustikales „Theater im Pumpenhaus" ist die zweite Heimat der sibirischen Choreografin Olga Pona. In der kargen Einsamkeit des industriell geprägten Süd-Ural nahe der Grenze zu Kastachstan arbeitet sie seit 1992 mit ihrem „Chelyabinsk Contemporary Dance Theater" als künstlerische Vorreiterin aktueller Lebenswirklichkeit. Für Deutschland entdeckt von Bertram Müller, dem ehemaligen Leiter vom „nrw-tanzhaus", gastiert die mutige Verfechterin individueller Lebensformen im restriktiven politischen System der kommunistischen Machthaber regelmäßig in der beschaulichen westfälischen Universitätsstadt vor einer treuen Anhängerschar.
Ihr neues Stück Different entstand, wie einst Pina Bauschs Tanztheater-Revuen, in Zusammenarbeit mit den acht auftretenden Tänzerinnen im Alter zwischen Anfang zwanzig und Mitte vierzig. Das Thema ist Tanz als individuelle Überlebensstrategie, also viel mehr als eine tanztechnisch stupende kleine „Plauderei aus dem Nähkästchen", sondern anrührende Statements und Kontemplationen über Tanz als Beruf und Berufung, als Sein. Die Aussagen werden in deutscher Übersetzung auf den Rückprospekt projiziert. Das erfordert vom Zuschauer einen Balanceakt zwischen Sprache und Bewegung, zumal die Formulierungen punktgenau offenbaren, was die Körpersprache über Denken und Empfinden verrät. Denn Tanz ist für diese Tänzerinnen - wie doch eigentlich auf welcher Basis auch immer für jeden Menschen - „Suche nach dem eigenen Ich".
„Wenn du tanzt, tickst du anders", sagt eine ganz banal. „Ich will ganz Ich sein", grenzt eine andere Solistin ein und ergänzt: „harmonisch, ausgeglichen, reif und glücklich". Eine dritte kauert vorn an der Rampe, verliest ihre traurige Lebensgeschichte und wie der Tanz ihre Rettung war.
Seit Martin Schläpfers virtuosem Spiel mit Verve und Erfindungskraft auf den „Instrumenten" seiner Kompanie in Mainz und anfangs beim Ballett am Rhein habe ich kein derart raffiniert innovatives Körperkunststück gesehen wie nun Different mit seinem Vokabular zwischen klassischem Ballett und zeitgenössischen Tanztechniken, unterhaltsam und staunenswert durch Elemente des Street Dance und zirzensischer Biegsamkeit. Wenn Theaterkunst sich derart virtuos und ehrlich an der Lebenswirklichkeit entlangtastet, ist es kein Wunder, dass es für Olga Pona und ihr „Chelyabinsk Contemporary Dance Theater" alljährlich Nominierungen für den renommiertesten Theaterpreis „Goldene Maske" regnet.