Ein Sommernachtstraum im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Shakespeares schönste Komödie getanzt

Der Zauber dieser schönsten Komödie des Engländers breitet sich schon vor Beginn der Premiere bis in den leeren Orchestergraben aus, in den breite Treppenstufen führen. Malerisch ist darüber der hauchzarte Vorhang drapiert, später fließt die weiße Schleppe von Hippolytas Brautkleid hinab. Zur festlichen Mendelssohn-Ouvertüre schreitet der Athener Theseus - schön wie Adonis, hochmütig und ernst - durch das schmale Portal, vor dem die Untertanen ihm huldigen und seine unglückliche Braut Hippolyta ihrem Geschick tieftraurig, aber royal aufgerichtet entgegenblickt. Winzling Philostrat in schwarzem Frack und Zylinder dirigiert die Volksschar, bis fast unmerklich Wirklichkeit zum Traum mutiert. Herzog und Amazonenkönigin fechten ihre Rivalitäten als Oberon und Titania im nächtlichen Elfenreich aus.

Putzig erdfarbene, gesichtslose Elfen umspielen ihre schöne Königin in der rot-wallenden Robe unter riesigem Schirm. König Oberon, das fleischfarbene Trikot nur andeutungsweise mit bunten Strichen dekoriert, ein fast lachhaft zartes Krönchen auf der schwarzen Haarpracht, streift als Platzhirsch durch die Nacht, umspielt von Puck, seinem quirligen dienstbaren Kobold mit riesigen Ohren. Die vier verquer Verliebten Hermia (Francesca Berruto), Helena (Sara Zinna), Lysander (Carlos Contreras) und Demetrius (Louiz Rodrigues) wuseln dazwischen herum, zanken und zetern, schmachten und schmollen.

Marko Kassl lässt Akkordeon-Klänge von fern tönen und Annette Reifig Klavierkaskaden perlen. Zwischendrin scheppern Jazziges und Big Band-Sound aus Lautsprechern, wenn ein verwunderliches Rudel von Waldtieren derb durch das Chaos poltert: ein Bieber mit breiter Schwanzflosse und weißen Hauern, ein Eichhörnchen mit gewaltigem, orangefarbenen Schweif, ein buntes Vögelchen, ein weiser Uhu und natürlich der tapsige Esel. Der weiß so gar nichts mit dem zarten, liebkosenden Fräulein anzufangen - bis sie schließlich oben auf ihm hockt und er glückselig zu schrillen Trompetenkieksern i-a't, bis der Vorhang sich diskret über der kuriosen Kopulation senkt und die Zuschauer jubelnd in die Pause gehen.

Jeder weiß, dass hinterher alles happy endet - und sogar Hippolyta, die sich wehmütig an ihren kleinen Liebestraum erinnert, spürt, dass das wirkliche Leben an Theseus' Seite gar nicht so furchtbar werden könnte, als er sich nähert und sehr zärtlich ihre Hände küsst.

Davor allerdings ging's noch einmal so richtig deftig zu, als das uklige Sextett der Handwerker-Waldtiere nach dem Prolog des Uhus Peter Squenz (José Urrutia) die Liebestragödie von Pyramus (Ledian Soto) und Thisbe (Valentin Juteau) zum Besten gibt, garniert mit allerlei Jahrmarkteinlagen von Ballerina-Mond (Lucia Solari) und Stepptanz-Löwe (Sarah-Lee Chapman) um und durch die Mauer (Mason Manning). Puck indes stolpert über die eigenen, riesig gewachsenen Füße, sodass Hitomi Kihura die ihr zu Recht gewidmeten Applaussalven am Ende der Premiere nur humpelnd entgegen nehmen konnte - oder geschultert vom durch und durch galanten und vorher mit höchster Eleganz tanzenden Theseus-Oberon Paul Calderone. Bridgett Zehr ist als Hippolyta-Titania schauspielerisch hinreißend und entfacht ein tanztechnisches Feuerwerk, wenn sie kreiselt, hüpft, sich biegt und spreizt.

Erstaunlich, wie unerschrocken und einfallsreich, mit welch entwaffnendem Witz und ungekünstelten Ernst sich dieser David „Ballett im Revier" neben dem benachbarten Goliath „Ballett am Rhein" entwickelt hat. Man mag gar nicht dran denken, wie's hier wird, wenn Bridget Breiner am Staatstheater Karlsruhe Glanzlichter setzt und Martin Schläpfer, ein Jahr später, nach Wien übersiedelt.