Hommage an seine Ballerina
„Regardez la lune!“ fordert sie den vor ihr stehenden „Eleven“ auf, um seinen Blick parallel zum ausgestreckten Arm nach oben zu lenken. Und dann zur anderen Körperseite hin dasselbe: „...et le ciel!“ Die wenige Minuten dauernde Tanz“stunde“ der einstigen Ballerina Ornella Balestra für Raimund Hoghe ist eine der rührensten und heitersten Szenen in Hoghes neuer Folge von Hommagen an langjährige künstlerische Wegbegleiter wie zuvor den französischen Tänzer Emmanuelle Eggemont oder viel bewunderte Stars wie Maria Callas.
Die Italienerin, die wie Hoghe längst in Frankreich heimisch ist, arbeitet seit Jahren mit dem Deutschen zusammen. Unvergessen ihre Odette-Odile in seiner kargen Schwanensee-Studie - eine Art Hommage auf das klassische Ballett. In einer verfremdeten kammermusikalischen Fassung erklingen in Canzone per Ornella Motive aus der Tschaikowsky-Musik, und Balestra deutet dazu in Körperhaltung und Gestik mit größter Eleganz einer modernen Diva die Tragödie der märchenhaften Schwanenprinzessin an.
Durch Verfremdung ermöglicht Hoghe seinen Zuschauern immer wieder neue Sichten auf künstlerische Meisterwerke. So verquickt er hier seine strenge Choreografie, in der er wie meist fast rituell den Raum durchschreitet - wie ein Architekt das zu bebauende Terrain zu Beginn einer Planung - mit einem „Soundtrack“ aus Kostproben aus Rezitationen der Dichtkunst von Pier Paolo Pasolini und Musik der Welt vom italienischen Barock bis zu Oper und Volkslied, Songs und Chansons von Charles Aznavour, Marlene Dietrich, Judy Garland oder Victoria de los Angeles und Gigliola Cinquetti. Balestra tanzt kleine Sequenzen mit berückender Bühnenpräsenz und Leichtigkeit - markiert mit ihren langen, schmalen Händen und Armen klassische Port de Bras, biegt den schlanken Körper geschmeidig, trippelt gelegentlich auf den schwindelerregend hohen dünnen Absätzen ihrer Pumps - oder streift sie ab, um auf temperamentvolle Rhythmen zu kokettieren oder sich in Slow Motion eng an Luca Giacomo Schulte zu schmiegen.
Ein Hauch abendlichen Sonnenlichts fällt auf die weiße Leinwand an der Rückwand der Tanzfläche, die von zwei schmalen weißen Schals wie geraffte Vorhänge flankiert wird. Am Ende ist's draußen fast Nacht. Nur ein fahles bläuliches Licht fällt noch durch das schöne Sprossenfenster herein. Hoghe hat die paar Requisiten unter einer prosaischen Isomatte, wie sie heute in jedes Auto gehört, abgedeckt - die graue Fleece-Decke, die er mehrmals um Ornella drapiert, sodass sie als Mutter Gottes erscheint, Tücher und Schals, die High Heels und die schwarzen Brillen, die das wahre Ich verstecken und vom Ende der Identität künden. Als wäre ein Leichnam zugedeckt liegt der goldene Hügel an der Rampe - als da da ein Leben abrupt zu Ende gegangen oder gar mit harter Konsequenz ein Schlussstrich gezogen worden.
Erinnert werden sollen indes die ungelösten Probleme der Menschheit, an die Hoghe nicht müde wird zu gemahnen: so hat er auch an diesem Abend den Brief zweier afrikanischer Jugendlicher verlesen, die auf dem Weg nach Europa als blinde Passagiere im Frachtraum eines Flugzeugs 1999 ums Leben kamen. Den Brief schiebt Hoghe unter die Isomatte. Das winzige Balsaboot, das bei seinem Gang durch den Raum auf der Wasserfläche in der Glasschale schaukelte, setzt er - als Mahnung, als Denkmal für die vielen ertrunkenen Flüchtlinge? - obendrauf. Das Wasser schüttet er aus der Schale im weiten Bogen - verschwenderisch - aus. Geht auch sein eigenes Bühnenleben zu Ende?
Ungelöst bleiben Hoghes Mahnungen zu mehr Menschlichkeit an die Menschheit - Bürger wie Politiker. Es braucht Geduld und wache Sinne, Hoghes künstlerische Reminiszenzen und Rituale zu verstehen und zu verinnerlichen.