Übrigens …

Medo/Angst im Asphalt-Festival Düsseldorf

Durch die Hölle zu Utopia

Nicht alle, die am ersten Abend des Asphalt-Festivals zur Spielstätte in den Alten Farbwerken gekommen sind, finden Einlass, um die neue Tanz-Performance Medo/Angst des Düsseldorfer Choreographen Ben J. Riepe zu erleben.

Nur vier Reihen weißer „Küchenstühle“ stehen auf der einen Seite des schwarz ausgekleideten Raumes, Zweidrittel bleiben leer. Einige junge Leute sitzen auf den Treppenstufen, doch als die Tür geschlossen wird, erheben sie sich: sie sind die Tänzer*innen, zwei Frauen und vier Männer, bis auf eine alle farbig. Gutgelaunt beginnen sie vielstimmig etwas wie „Heja“ zu singen, dazu rhythmisch mit den Fingern zu schnipsen und sich mit nur angedeuteten Tanzschritten durch die Stuhlreihen zu zwängen. Dabei reichen sie dem Einen oder Anderen die Hand, so dass ihr Heja wie eine Begrüßung klingt und uns alle einbezieht. Tatsächlich stimmen einige Besucher auch in den rhythmischen Gesang ein. Lachend und schwingend versammeln sich die Akteure schließlich auf der schmucklosen Fläche, gleichsam dem Bühnenraum, füllen ihn mit ihren kraftvoll ausgreifenden Bewegungen und anschwellendem Singsang: alle barfuß, in knappen Shorts und weiß-grauen Shirts, nur einer in blassem Orange.

Sie umarmen einander, bilden schließlich ein einziges, ineinander verknotetes, sich unaufhörlich windendes Kunst-Wesen mit unzähligen Gliedmaßen. Sie küssen einander, wo immer sich ihnen ein Körperteil bietet, sei es der Mund, der Arm, das Bein, der Rücken. Ein Bild der Ekstase.

Doch dann wird aus dem Wälzen ein Balgen, aus dem Lachen ein Schreien und aus dem Küssen ein Beißen. Einer nach dem Anderen löst sich aus dem kunstvollen Wesen, alle streben auseinander. Aus dem Off dröhnt Trommelwirbel, eine Frau beginnt ein bizarres Solo, Rufe in verschiedenen Sprachen schwirren durch den Raum und mischen sich mit Flugzeuglärm, Hundegebell Kommando-Gebrüll. Elegante Tanzbewegungen wechseln zu hartem Stampfen der Tänzer. Sie verbergen ihre Gesichter und während aus dem Off eine Fanfare tönt, beginnt am Boden ein Wimmern, das in lautes Schluchzen übergeht.

Doch in dem Moment, in dem medo - die Angst vor etwas Fremdem, nicht Benanntem - die Menschen erreicht, wird uns jeder Einblick genommen: von beiden Seiten legt sich ein dichter Nebel über alles, auch über die „Zuschauer“. Ganz offensichtlich soll niemand sehen, was weiter geschieht. Hier und da wird gehustet, doch es dauert eine Weile, bis wieder schemenhafte Figuren erkennbar werden. Und zweifellos hat sich inzwischen einiges geändert: die Menschen laufen halbnackt oder mit bizarrem Kopfschmuck herum. Alles bleibt schattenhaft, vage, auch die Geräusche sind neu. Es plätschert, knackt und knistert ohne Bedrohlichkeit. Man umarmt sich, windet sich zu einer Skulptur übereinander, bewegt sich gemeinsam durch den Raum - nur der Atem ist hörbar - bevor sich das Bild wieder entwirrt und in einen befreienden, selbstbewussten Körper-Tanz übergeht. Die Tänzer sind angekommen in ihrem Space. Sie mischen sich wieder unter die Zuschauer: vielleicht holen sie uns nach in dieses Space, das für heute in der Tanzkunst zu finden sein könnte.

Ben J. Riepe nimmt das Publikum mit in die fiktive Welt des Afrofuturismus, in der die Menschen die unerträgliche Erde verlassen, und aus der dystopischen Gesellschaft der Gegenwart in eine utopische Zukunft aufbrechen.

Für diese Idee schafft er überzeugende, höchst dynamische Bilder. Es gelingt ihm, ein politisch-soziales Anliegen in ergreifende ästhetische Formen zu fassen. Mit seinem deutsch-brasilianischen Team findet er eine ganz eigene, intensive künstlerische Ausdrucksform, die die sechs Tänzer*innen grandios auf die Bühne bringen: Sebastiao Abreu, Sauana Costa, Aaron S. Davis, Thor Galileo, Wendel Lima, Tyshea Suggs.