Dance Like A Butterfly, Sting Like A Bee
Ein Surren, dann leise, beschwörende Musik. Ein einziger Scheinwerfer durchdringt die Dunkelheit, beleuchtet schemenhaft die Tänzerinnen und Tänzer an der Seitenlinie. Angespannt stehen sie da, bereit, die Spielfläche zu betreten, wie wartend auf das Startsignal, aber noch nicht von der Kette gelassen. Ihre Beine, ihre Gliedmaßen zittern wie bei einem nervösen Pferd; ihre Oberkörper scheinen bereit, gleich explosionsartig nach vorn zu schnellen. Man denkt gleich an Sport - Leichtathleten, Mittelstreckler vor dem Startschuss könnten es sein. Wer sich zuvor ein wenig über die Aufführung informiert hat, denkt auch ans Boxen. Dance like a butterfly and sting like a bee…
Hybridity ist (nach Momentum - siehe hier - und Vis Motrix) der dritte Teil des Werkzyklus „The unknown body“, in dem die Bonner Gruppe CocoonDance die Transformation des Körpers durch Musik und Rhythmus, aber auch die Beziehungen zwischen den scheinbar widersprüchlichen Bewegungsrepertoires des Tanzes und anderer, tanzfremder dynamischer Aktivitäten untersucht. Diesmal soll es um das romantische Ballett des 20. Jahrhunderts und die uralte Tradition des Thai-Boxens gehen. Als Berater hat man sich eigens Isabelle Fokine, die Enkelin des sogenannten Begründers des modernen Balletts Michail Fokine, und den Welt- und Europameister im Muay Thai Priest West an Bord geholt. Wie bei „Momentum“ erzählt der Tanzabend aber auch eine Evolutionsgeschichte.
Die Kamera schwenkt zunächst einmal ausschließlich auf die im Startmodus befindlichen Beine; Oberkörper und Köpfe liegen im Dunklen. Schnelle Beine benötigt man beim Boxen nicht minder als beim Tanzen: Dance like a butterfly and sting like a bee. (Beim Thai-Boxen sind sogar Tritte mit dem Fuß gegen den Kopf erlaubt - also klassisch das, was beim Fußball als „hohes Bein“ mit der Gelben Karte bestraft wird.) Lange Zeit passiert: nichts. Und dennoch ist man (auch dank der hypnotischen Musik von Franco Mento) gefangen genommen, gespannt wie ein Flitzebogen wie bei einem herausragend spannenden Sportereignis. Die mühsam im Zaum gehaltene Energie der Tänzerinnen und Tänzer überträgt sich selbst am Bildschirm auf den Zuschauer. Erst nach sieben Minuten beobachten wir erste, noch etwas hölzerne Bewegung. Ein Mädchen löst sich zuerst aus der Gruppe, dann folgen die übrigen drei Tänzerinnen und zwei Tänzer. Sie bewegen sich wie Automatenmenschen, abgehackt, wenig flüssig. Scheinbar zufällig finden sie verschiedene Positionen zueinander, aber natürlich handelt es sich bereits um Formationen - Formationen des zeitgenössischen Tanztheaters, mit individuellen Figuren, nicht als entindividualisierte Struktur einer Massenchoreografie, wie wir sie vor wenigen Tagen beim gleichen Festival bei den Gardetänzerinnen des Düsseldorfer Karnevals erlebt haben (siehe hier). Das Licht wird heller, was die Unterscheidbarkeit und die Individualität der Performerinnen und Performer erhöht. Man unterscheidet nun Männer und Frauen, erkennt die Gesichtszüge und die Farben der Bekleidung. Manche nehmen Blickkontakt miteinander auf; der Raum wird erobert, die gesamte Spielfläche der Fabrik Heeder genutzt. Aber noch ruckeln da menschliche Roboter aus der Frühzeit des Computers. Doch so wie die pochende Musik langsam anschwillt, werden auch die Bewegungen schneller und flüssiger. Und wir erkennen… nein, kein klassisches oder gar romantisches Ballett, aber doch unzweifelhaft Bewegungen aus dem Repertoire des klassischen Tanzes.
Der Romantik wirkt schon der plötzlich veränderte Soundtrack entgegen. Der wird jetzt aggressiver, unharmonischer. Die Geister der alten Tapetenfabrik Heeder & Co. scheinen erwacht: Geräusche wie von einer Baustelle oder aus einer Fabrikhalle mischen sich in den Sound, ein Sägen, das Quietschen einer schlecht geölten Maschine, eines Schweißgeräts. Ein Ploppen wie von schallgedämpften Schüssen - aber vielleicht sind es auch die Trainingsgeräusche der Thai-Boxer, deren Bewegungsrepertoire sich nun in den Tanz einschleicht. Eine Tanz-Choreographie wird deutlich, ein Hybrid aus Kampf und Tanz: Ein noch etwas ungelenkes Miteinander steht neben faszinierenden Soli, Tanzbewegungen verschmelzen mit den Kampfbewegungen, dem Hüpfen und dem Ausschlagen der Beine des Muay Thai. „Tanz trifft auf Martial Arts, sublime Ästhetik auf Kriegskultur, Hochkultur auf volkstümliche Bewegungskultur“, um es mit den Worten der Gruppe auszudrücken. Doch Berührungen finden nicht statt. Nicht „Dance like a butterfly“ hieß es bei Muhammed Ali: Das korrekte Zitat lautet „Float like a butterfly“. Der perfekte Tänzer, der perfekte Boxer schwebt. Schon Muhammad Ali hat unbewusst in seiner Selbstbeschreibung das männliche Rollenbild des Kämpfers mit dem weiblichen der schwebenden, feenhaften Tänzerin verbunden.
Ruhe. Erschöpfung. Dunkelheit. Stille. Die Performer haben sich bis zur Schmerzgrenze verausgabt und liegen wie besiegt in der Ecke, übereinander gebeugt, die runden Rücken dem imaginären Zuschauer zugewandt. Zu stillen, fast kontemplativen Klängen richten sie sich mühsam wieder auf. Ihre Bewegungen wirken tastend, aber zuversichtlich. Dann erstirbt die wieder harmonisch gewordene Musik. Jetzt sind endgültig neben den Beinen auch die Arme und Hände im Spiel. Zunächst in Zeitlupe, dann, zu wieder pochendem Sound, wird in hohem Tempo geboxt. Schattenboxen, unfassbar schnell, zutiefst erschöpfend. Wir erkennen Bewegungen aus der noch rätselhaften, ungelenken Anfangsphase. Jetzt sind die Bewegungen flüssig, unwiderstehlich. Aggressiv und harmonisch zugleich. Wie das Boxen. Wie der Tanz - nicht das romantische Ballett, aber das moderne Tanztheater. Es wäre Standing Ovations wert - in Corona-Zeiten prostet man dann der Tanzkompanie vor dem TV-Gerät mit einem Schluck Wein zu. Allerdings erst, wenn man sich von dem rasanten Ende erholt hat.