Übrigens …

Just before Falling/Car Walk

Nur einmal klirrt die Blumenvase

Der vorletzte Tag des Festivals tanz nrw 21 ist vollgepackt mit verlockenden Angeboten. Das Festival findet pandemiebedingt in diesem Jahr nur digital statt, und die Organisatoren haben versucht, die einzelnen Streamings zeitversetzt zu übertragen, so dass die treuen Verehrer des Choreographischen Theaters nahezu alle Stücke sehen können. Am vorletzten Tag jedoch muss man notgedrungen eine Auswahl treffen. Der Schreiber dieser Zeilen ging auf Nummer sicher und wählte ein kurzes Stück von Verena Billinger und Sebastian Schulz aus, von deren Choreographien er sich schon mehrfach begeistert zeigte, sowie eine spannend klingende Aufführung eines aufstrebenden Köln-Bonner Duos. Nummer sicher ist leider schief gegangen: Es wurde ein enttäuschender Abend vor dem heimischen TV-Screen.

Nur einmal klirrt die Blumenvase: Just Before Falling vom El Cuco Projekt

El Cuco möchte man nicht so gern begegnen, wenn man Kind in Lateinamerika ist. Das Fabelwesen, das in verschiedenen Kulturen des spanischen und portugiesischen Sprachraums sein Unwesen treibt, hat den Körper eines Menschen, aber den Kopf eines Drachen oder eines Krokodils. Mit Kindern, die nicht gehorchen, nur Blödsinn im Kopf haben oder ihren Eltern auf die Nerven gehen, stellt es fürchterliche Dinge an. Sed buenos, queridos niños!

El Cuco Projekt - das sind Sonia Franken aus Köln und der gebürtige Chilene Gonzalo Barahona, deren Kunstprojekte sich vorwiegend an der Schnittstelle zwischen Choreographie und Bildender Kunst bewegen. Das Markenzeichen ihrer Choreographien sind menschliche Körper mit Tiermasken. Die Maske verwandele den Performer und führe automatisch zu veränderten Bewegungsabläufen, sagt Franken. Er werde gleichzeitig zu Tier, Mensch und Objekt, zu Skulptur, Gemälde und Cartoon.

In Frankens und Barahonas jüngster Choreographie Just Before Falling flößt El Cuco nicht wirklich Angst ein. Obwohl: Wenn aus dem Stockdunkel der ersten Szene sich langsam die Konturen einer kauernden Echse (eines Drachen? Eines Krokodils?) herausschälen, mag das auf das eine oder andere kleine Kind schon gruselig wirken. Doch eigentlich sind die Viecher an diesem Abend eher süß, und bald wird es taghell. Die Echse krabbelt ein bisschen, richtet sich dann zu menschlicher Größe auf und steckt eine Blume in eine Vase. Immer wieder. Eine sanfte Frauenstimme zitiert in englischer Sprache die Definition von „Fallen“. „Falling implies an acceleration to higher speed.“ Doch nichts dergleichen: Zwar droht die Vase tatsächlich von der Kommode zu fallen - einmal hören wir sie gar zerschellen -, aber sie fällt in Ultra-Slowmotion, heißt: in unserer Wahrnehmung gar nicht. Stattdessen sehen wir gleich drei schwebende, im Fallen begriffene Vasen, wie Bilder, die nacheinander auf der Netzhaut haften bleiben und einander überlagern. „When things fall apart, they do it in infinite ways, but never twice the same“, wird es später einmal mit Sonia Frankens zarter Stimme heißen, doch es sieht aus, als folgten die drei blauen Vasen der Tiertanz-Romantik immer gleichen Bahnen. Nur Valerij Lisacs Soundtrack entwickelt sich von Urwaldgeräuschen in der Nacht über fast sakrale Töne zu einigermaßen schwungvollen, aber weiterhin wenig beunruhigenden Rhythmen.

Aus einer Echse werden zwei wird ein Fuchs wird ein Vogel eine Maus eine Fledermaus. Wie man lesen kann, ist Sonia Franken das Motiv der Fledermaus besonders wichtig, weil eine solche mutmaßlich das Corona-Virus über die Welt gebracht hat. Mit weicher Stimme erzählt die Choreographin vom Verschwinden der Vase, der Tapete, des Fußbodens, der Straße, der Regierung, der Menschen, des Lichts. Zwischendurch wird die Bühne, wird die Wohnung, in denen sich die Cucos eingerichtet haben, wie von einem Erdbeben erschüttert. „No light, no home, no city, no life, no death“ - ist das die Welt nach der Pandemie? Mag sein, dass in den hübschen, aber harmlosen Bildern voller Absurdität auch eine apokalyptische Vision steckt, eine Warnung von El Cuco an die Kinder dieser Erde, sich unserer Welt gegenüber verantwortungsvoll zu benehmen. Aber dafür wirkt das Ganze doch eigentlich zu banal.

"No audience, no distance, no definitions", haucht Franken. - And no tension, unfortunately. Der Schreiber dieser Zeilen, sonst ein Freund surrealistischer Kunst, blieb vom Monster El Cuco unbeeindruckt.

Wer sein Auto liebt, der schiebt: Car Walk von Billinger & Schulz

Der Tag ist trüb, der Parkplatz leer. Eine Drohne sorgt für einen wunderbaren Rundumblick. In der Ferne erkennt man die bei diesem Wetter abweisende Skyline der Stadt Frankfurt, vor respektive unter uns kreist der Blick über die Frankfurter Eissporthalle, das Stadion des Regionalligisten FSV Frankfurt, die A 661 und die Bundesstraße 8. Das wirkt ein wenig trostlos, und einsam mag es auch dem mutterseelenallein in der Mitte des Parkplatzes stehenden silberfarbenen Auto zumute sein. Fünf Personen und ein Opel warten auf ihren Einsatz.

Allein oder mit'm Hund“ darf man raus während der Corona-Ausgangssperre. Die Tänzerinnen und Tänzer von Billinger & Schulz führen statt Hund ihr Auto aus. Eine Performerin nimmt am Lenkrad Platz und bestimmt ab und an die Richtung, die anderen turnen auf dem Auto rum. Der Motor bleibt aus; meistens heißt es: Wer sein Auto liebt, der schiebt. Da hievt sich schon mal jemand akrobatisch kopfüber vom Dach auf die Rückbank; wilde Hexen reiten auf dem Kotflügel, eine (männliche oder weibliche, egal!) Windsbraut liegt auf dem Kotflügel. Der Höhepunkt der Dynamik scheint erreicht, wenn sich einer der Performer von der Motorhaube rollen lässt: Unfall mit Personenschaden? Überrollt wird der junge Mann aber gottlob nicht; dafür wäre das Auto auch zu langsam.

Dramatisch ist das alles nicht, auch wenn das Auto mit reiner Mannes- oder Frauenkraft gelegentlich einigermaßen schwungvoll in Bewegung gebracht wird. Der Opel beschreibt Kringel wie beim Ballett und soll der Hauptdarsteller der Tanzperformance sein, aber er ist viel zu schwer, um leichtfüßig... äh: leichträdrig über die Planche zu hüpfen. So gibt es weder Tanz noch autonomes Fahren, sondern ein vierzigminütiges Geschiebe: vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran. In solchen Fällen zog der legendäre ZDF-Autotester Rainer Günzler in den 1970er Jahren ein kurzes und prägnantes Fazit: „Alles in allem kein Grund zum Jubeln.“