Tanztheater mit Funkenmariechen
Sie war jung, sie war hübsch, sie war fröhlich, sie war schlagfertig. Und sie war Fußball-Fan, denn sonst hätte ich sie nicht kennengelernt, damals, bei der Frauen-Fußball-WM 2011 in Leverkusen, bei der wir beide in der gleichen Volunteer-Gruppe den Ausrichter unterstützten. Ganz sicher war sie eine emanzipierte, selbständig denkende Frau. Die Höhepunkte des Jahres waren für sie ihre Auftritte als Funkenmariechen im Kölner Karneval. Sie war brünett.
Meine Tochter Nina dagegen ist blond. Heute hält man ja am besten 24 Stunden am Tag den Mund, damit nicht aufgrund irgendeiner unbedachten Bemerkung ein Shitstorm in den sozialen Netzwerken über einen hineinbricht. Blondinenwitze zum Beispiel dürfe man auf keinen Fall mehr erzählen, habe ich neulich gelernt: Das sei ausgrenzend, beleidigend, frauenfeindlich, sexistisch. Ich kenne keine Blondinenwitze; jedenfalls kann ich mir keine merken. Doch fällt das entsprechende Stichwort, ist die blonde Nina nicht mehr zu bremsen. Ein Blondinenwitz nach dem nächsten sprudelt aus ihr heraus, und sie hört nicht auf zu lachen. - Reut Shemesh untersucht jetzt in Cobra Blonde die Verbindungen zwischen zeitgenössischem Tanz und Funkenmariechen sowie die Rolle der Frau in der (nicht nur) Karnevalsgesellschaft.
„Aaachtung!“, ruft die Leadtänzerin, die lange bewegungslos auf einem Podest gestanden hatte. Elf blonde Gretchen marschieren durch die coronabedingt menschenleere Viersener Festhalle. Sie marschieren ohne Musik, nur ihre Schritte hallen auf unterschiedliche Weise, je nachdem auf welchem Untergrund sich die Formation gerade bewegt. Bei den Gretchen handelt es sich um die Gardetanzgruppe der Karnevalsfreunde der (weiblichen) katholischen Jugend Düsseldorf. Es sind also eigentlich Mariechen, und dementsprechend haben sie sich auch in Schale geworfen: blaue Uniform, kurze Röckchen, exakt gleiche blonde Kunsthaar-Zöpfe unterm Dreispitz. Zwischen den Zöpfen strahlen sündhaft rot geschminkte Lippen und ein Beton-Lächeln, kalt, eingefroren, emotionslos. In den Blicken und Bewegungen der jungen Damen liegt keinerlei Fröhlichkeit. Im Soundtrack auch nicht: „Don’t be shy“, klingt es nach langer Zeit aus dem Off; erste menschliche oder musikalische Laute sind zu hören, und sie scheinen im wahrten Sinne des Wortes aus der Konserve zu stammen: Es hört sich an, als habe da jemand eine leere Dose Junge Erbsen extra fein über die Tonquelle gestülpt.
Dann, endlich, ein echter musikalischer Akkord. Wie ein dräuender Tusch, eine Fanfare: „Hands up!“, heißt es, und das Lächeln verschwindet, wird zumindest noch unnatürlicher. Heftiges Augenklimpern bestimmt den Ausdruck, wobei die viel zu langen angeklebten Wimpern auffallen. Nicht-Karnevalisten wie der Schreiber dieser Zeilen können jetzt etwas lernen: Der Gardetanz wird seziert, dekonstruiert und in seine Einzelteile zerlegt, so dass seine Funktionsweise offen zu Tage tritt. Zu immer gleichen (oder zumindest ähnlichen) Akkorden bewegen sich die Tänzerinnen zeitlupenartig verlangsamt. Sie wirken wie düstere, bedrückende Eisheilige des Gardetanzes, Zombies, die der Teufel geholt zu haben scheint. Das ist Karneval vom Traurigsten, ein postmortaler Abgesang auf den aufgekratzten Frohsinn der Funkenmariechen, aber die Untoten haben nichts verlernt: Nach wie vor performen sie das exakte Bewegungsrepertoire ihrer Kunstform. Und das bedeutet: entindividualisiert, aber in vollständigem Gleichklang.
Oder etwa nicht? Hatten sich da nicht schon ganz zu Beginn gelegentlich die individuellen, rhetorischen, interpretierbaren Gesten des zeitgenössischen Tanzes eingeschlichen, kleine, dem Repertoire des Gardetanzes widersprechende Bewegungen von Händen und Armen? Immer wieder zerfällt jetzt die Formation, werden Dreispitz und Perücken abgenommen. Eine Tänzerin hält zu jeder Seite eine Blondhaarperücke wie einen Skalp am ausgestreckten Arm. Eine Tänzerin hat ihre Uniform mit der einer Polizistin vertauscht und lenkt damit die Blicke von der Formation auf das Individuum. Plötzlich stehen elf eigenständige Charaktere auf der Bühne, mit unterschiedlichen Haarfarben und Frisuren, mit individuellen Körpern und unterschiedlichen Haltungen. Sie werden vorgestellt mit Namen, Alter und Eigenschaften. Es sind normale junge Mädchen, wie es scheint; den Bühnenfiguren wird ein wenig Authentizität gewährt. Oder ist auch das nur Inszenierung, nur Fake? Die Selbstbeschreibungen werden gegen Ende immer unglaubwürdiger. „Marie, 40, immer glücklich und süß“? Und auch „böse“? Eine Marie haben wir auf dem Besetzungszettel nicht gefunden. Eine Laura schon, aber was bedeutet dies: „Wir sind Laura, eine mächtige, gefährliche Einheit?“ Da ist sie dann wohl doch wieder, die Einheit der Formation. Allzu viel Individualität wird eh nicht zugelassen: Es ist immer die gleiche monotone Computerstimme, die die Namen und Vorlieben der Tänzerinnen präsentiert.
Reut Shemesh sucht nach den Beziehungen zwischen den Traditionen des Gardetanzes und der Modernität des zeitgenössischen Tanztheaters. Auch in ihrem Gesamtwerk definiert sie ihre Arbeit als Suche nach der Komplexität der Welt, nach der Verbindung von Gegensätzlichem, scheinbar Widersprüchlichem. Dass sie dem organisierten Karneval mit Funkenmariechen und scheinbar unemanzipiertem Gardetanz mit einer gesunden Skepsis gegenübertritt, erscheint nicht verwunderlich. Aber das Fremde ist auch faszinierend: der fast militärische Gleichklang des Gardetanzes für Shemesh und das individualistische, freie Bewegungsrepertoire des Tanztheaters für die jungen Karnevalsfreundinnen. Shemesh zeigt die Präzision und Akrobatik des Gardetanzes - und sie legt zumindest ansatzweise die Individualität der Tänzerinnen frei. In Großaufnahme zeigt sie auf der Bühnenrückwand die starren Münder, die primitive Symbolik der rot gefärbten Lippen; sie lässt Country Songs anspielen, Dorthes „Ach wärst du doch in Düsseldorf geblieben“ und Zarah Leanders „Nur nicht aus Liebe weinen“ - aber sind nicht auch Dolly Parton oder Dorthe in sich widersprüchliche Frauenfiguren, die gleichzeitig ein überkommenes Frauenbild bedienen und dagegen ansingen? Es gibt im Leben nicht nur den einen… - Meine selbstbestimmte Volunteer-Kollegin hat Spaß als Funkenmarie, und Nina liebt Blondinenwitze, why not? Das Bild der modernen Frau hat viele Facetten.
Und doch: Der Gardetanz ist nicht nur reine Freude. Aus dem Off erklingt Karnevalsmusik, wie von einer imaginären Bühne. Die echte Bühne wird zur Hinterbühne, auf der sich die Tänzerinnen in Super Slow Motion frisieren, erschöpft von den Anstrengungen ihres Jobs erheben und lustlos zum Gruppenbild formieren. Auch mit dem Teamwork ist das so eine Sache. Am Ende sitzt eine traurig am Boden und hält ihre abgelegte Perücke in der Hand. Teile ihrer Ausrüstung hat sie achtlos abgelegt. Sie war eine von elf. Jetzt sind es nur noch zehn, die tanzen - erstmals gelöst und fröhlich. Ein langhaariges, braunhaariges Mädchen ist am Boden: ein Individuum, ausgestoßen, ausgemustert. Es ist ein unendlich trauriges Bild - und das stärkste des Abends. Spotlight aus.