Übrigens …

Archipel - ein Spektakel der Vermischungen im Düsseldorf, Central

Neue Lebewesen im posthumanen Zeitalter

Photosynthese war gestern; heute erfolgt die Energiegewinnung von Pflanzen durch ganz andere rätselhafte Prozesse und Rituale. Die Welt wie wir sie bisher kannten gibt es nicht mehr. Menschen und Pflanzen haben sich verbunden, sind neue, unbekannte, unsichtbare Symbiosen eingegangen. Langsam erwachen die neuen Wesen. Sie testen ihre Kräfte aus, suchen nach neuen Verbindungen zu einander. Eine faszinierende, fremde Welt tut sich auf; es kommt zu einem Spektakel der Vermischungen. Und wir, die Überbleibsel aus der alten, kaputten, humanoiden Welt des 21. Jahrhunderts, dürfen dabei zuschauen.

Der japanische Architekt Sou Fujimoto hat den „Archipel“ gebaut, auf dem sich diese fremde, neue Kultur entwickelt. Seine mehrstöckige, schwarz und silbern glänzende Skulptur bildet eine Landschaft aus kleinen, einander überlappenden Inseln, die nahezu den gesamten Bühnenraum des Düsseldorfer CENTRAL einnimmt. Zehn Tänzerinnen und Tänzer von Stephanie Thierschs Kompanie Mouvoir sowie elf Musikerinnen und Musiker des Ensembles Garage und des Asasello Quartetts schlafen oder rekeln sich auf den zahlreichen Plattformen des architektonischen Kunstwerks; die sechzehn Sängerinnen und Sänger des Norske Solistkors konnten coronabedingt nicht einreisen und werden im Audio- und Videoformat in das Stück integriert. Aus allen Ecken des Raums - auch hinter den spärlichen Zuschauerreihen - hört man ein elektronisches Tropfen, Gluckern, Knistern und Knacken. Urwaldgeräusche könnten es sein, der Dschungel ruft: „Calling“ heißt dieser erste Teil der Performance, oder „Rituals of Becoming“. Die neue Welt ruft ihre neuen Wesen. Ein tierischer Urschrei ertönt; ganz langsam, mit zunächst hilflos und ungelenk wirkenden Bewegungen erheben sich erste Figuren aus der Horizontalen, eine eigene, in ihren Strukturen einfach erscheinende, unverständliche Sprache entsteht. Das Ensemble Garage greift zu Trompete und Posaune, sphärische Chöre aus Norwegen erklingen, und Sebastian Schottke von der Klangregie sowie Maxímilian Estudies und Lucia Kilger, die für die Live-Elektronik und die Programmierung verantwortlich zeichnen, verfremden die Klänge zu einem faszinierenden Soundtrack, in dem sich Harmonien und Störgeräusche gegenseitig überlagern.  

Die Performer sammeln sich unten auf dem Bühnenboden; oben auf der Archipel-Skulptur verbinden sich zwei Körper zu einem neuen Wesen mit tentakelhaften Extremitäten. Auf der kleinen Videoleinwand tauchen vier Norweger auf; ihre Gesänge haben einen fast sakralen Charakter. Die erwachten Mischwesen haben inzwischen ungeheures Temperament entwickelt: In irrwitzigem Tempo fegen sie über die Bühne. Einigen Wesen wachsen Schwänze aus den Lenden, anderen kleben wurstartige Wülste an Teilen des Körpers, und wieder andere haben große oder kleine Antennen an den Köpfen und erinnern an Science Fiction Filme aus der Zeit, als es noch Menschen gab. Für Diversität ist in der schönen neuen Welt jedenfalls gesorgt - und für ansprechende Ästhetik auch, denn alle tragen eng anliegende weiße Gewänder, die prima miteinander harmonieren.

Es folgt: die Transformation, die Bildung eines Kollektivs und die Geburt von Edaphonen, von Bodenlebewesen. Eine unendlich lange Passage immer gleicher Rhythmen, immer gleicher Töne, nur minimal variiert, führt beim Zuhörer zunächst zu Irritation, bevor sich eine hypnotische Wirkung einstellt. Die Performer rucken und zucken, nicken und wippen - es gibt keine Individualität, sondern ein Kollektiv, das mit hoher Disziplin und absolut synchronen Aktionen ein gemeinsames Ziel zu verfolgen scheint. Fast wirkt es, als erzeugten sie mit ihren unaufhaltsamen, ekstatischen Bewegungen Energie: Im Raum wird es unmerklich immer heller; die Wesen beginnen zu singen und zu stampfen - und endlich lösen sich einige aus der Gruppe und kriechen, immer noch im gleichen Rhythmus sich bewegend, ameisenähnlich auf dem nunmehr nebelverhangenen Boden herum. Dann endlich: Erschöpfung, Schlaf. Zum ersten und einzigen Mal in der 90minütigen Performance kommen Tänzerinnen und Tänzer sowie Soundtrack zur Ruhe.

Ganz langsam, in aller Stille erwachen die Wesen nach ihrem hypnotischen Schlaf zu neuem Leben. Langsam testen sie ihren Körper aus. Arme und Beine ragen aus dem Bodennebel im CENTRAL-Wald und schaukeln wie Blätter im Wind. Wie in Zeitlupe finden die neuentstandenen Mischwesen aus Menschen und Pflanzen zu einer neuen Identität. Sie rollen zurück auf die Inseln ihres Archipels. Ein Pas de deux deutet sich an; dann mehrere Zweier-Konstellationen. Fast glaubt man, etwas Ähnliches wie einen Kuss zu erleben, später auch eine handfeste Keilerei. Zwei noch menschenähnliche Wesen heben einander in die Höhe - mal der eine die andere, dann wieder die andere den einen. Vielleicht, so hofft der altmodische Romantiker im Zuschauerraum, gibt es ja in einer zukünftigen Welt immer noch so etwas wie Liebe und Zweierbeziehung, die Menschen wie ?eyda Kurt („Radikale Zärtlichkeit“) schon heute abschaffen möchten. Aber weit gefehlt: Das neohumanoide Zeitalter kennt nicht nur keine Liebe mehr, sondern auch keine anderen der heute bekannten biologischen oder neurobiologischen Prozesse. Doch die Transformation wird gefeiert. Das seltsame geometrische Gestirn, das seit einiger Zeit wie Sonne oder Mond über der Bühne hängt, glitzert golden; von der Spitze von Fujimotos Bühnenskulptur erklingt wieder harmonischer, hypnotischer Gesang. In einer modernen Form der Polonaise bewegen sich die Performer singend und tanzend durch den Bühnenraum.

Doch was bedeutet dieses Ende? Eine Performerin befindet sich allein noch auf dem Archipel und gibt Kommandos - erstmals in verständlicher, englischer Sprache. Einige ihrer Kombattanten reagieren darauf, entledigen sich ihrer Phantasiekostüme und legen sich schlafen. - Wie auch immer: Uns Menschen gibt es nicht mehr. Aber die Energie, die die Neohumanoiden aus ihrer Verbindung mit den Pflanzen gewonnen haben, ist grenzenlos. Jedenfalls reicht sie für 90 Minuten pausenlosen, kraftvollen, hochenergetischen choreografischen Theaters. Fürwahr ein Spektakel, das sich den langen Applaus redlich verdient hat.