Auf Motorcrossrädern zu den Luftgeistern
Dunkelheit. Schemenhaft eine Figurengruppe. Aus dem Off Dröhnen, Kreischen, Quaken.
Rechts und links am Bühnenrand erscheint auf großen Projektionstafeln in Rot das erste Motto: „Learning how to govern the Body“.
Die Gruppe löst sich auf. Erst vier, dann sechs Frauen in individuellem Freizeit-Outfit: Shorts und Shirts, nehmen an Barrenstangen Aufstellung, dazwischen die Trainerin, nackt bis auf den Gurt fürs Mikroport. Eine alte Frau mit welkem Körper, gibt sie ruhig, selbstbewusst, streng ihre Anweisungen zu traditionellem Ballett, zu Spitzentanz und Plie. Alle gehorchen, doch die Zuchtmeisterin ist unzufrieden, fordert mehr Körpersicht und Stück für Stück legen die „Eleven“ ihre Kleidung ab. Jede Körperbewegung wird überprüfbar, jeder Fehler enttarnt. Dann folgt eine Vagina-Inspektion am Boden. Alles auf Kommando: der weibliche Körper wird zum funktionierenden, anonymen Produktionsmittel, eine „vom Mann für den Mann entwickelte“ und „für den männlichen Blick inszenierte“ Be -herr- schung wird vorgeführt. (Holzinger im Interview).
Diese Body-Diktatur präsentiert den ersten Teil des Untertitels: einen sylphidischen Exkurs zu den Anfängen des Balletts als eigenständige Kunstform im 19. Jahrhundert. 1832 schuf Filipo Taglioni mit seinem romantischen Ballett La Sylphide den Stereotyp der Feenwesen und Luftgeister, die immer wieder versuchen, sich im Spitzentanz - en pointe - vom Boden abzuheben, sich in Schwerelosigkeit in andere Sphären zu erheben. Diesen Urmenschheitstraum vom Fliegen entlehnt die Choreographin Florentina Holzinger den Romantikern, um dann aber zugleich sexistischen Schönheitskult und sensationslüsterne Perfektion der Klassiker anzuprangern. (Dabei ist Tanz der Abschluss einer Trilogie zum Körper als Spektakel nach Recovery und Apollo).
Holzinger, die selbst vom modernen Tanz kommt, gibt den romantischen Feenwesen ganz neue Flügel: „ Okay, für diese Show lernen wir jetzt fliegen, fuck it!“, gibt sie als Motto vor und alle machen mit.
Zwei weiße Tücher segeln zu Boden, geben zwei rasante, am Schnürboden aufgehängte Motorcross-Räder frei. Performerinnen schwingen sich darauf und vollführen akrobatische Luftnummern, spielen Geige oder wagen Hochseilnummern im Fluge.
Eine bunttätovierte Asiatin wird per Flaschenzug ganz behutsam am eigenen Schopf meterhoch gezogen, hoch und höher und beginnt zu schwingen und in der Luft zu tanzen. Ernst, konzentriert schaut sie uns an: kein Schmerzenszeichen: Schweben, Fliegen zur Schwanensee-Musik.
Unterdessen filmt eine der Frauen mit einer Live-Kamera das Geschehen: Bilder erscheinen auf den beiden Projektionsflächen, verdreifachen, splitten, vergrößern, entdecken.
Da liegt im Hintergrund eine Frauengestalt bäuchlings auf einem Tisch. In Großaufnahme sieht man, wie ihr zwei Haken ins Fleisch gebohrt werden. Kein Schrei. Kein Blut. Sie kommt nach vorn, zeigt dem Publikum den Rücken, wird behutsam am Flaschenzug verhakt und ganz langsam - immer noch den Rücken zum Publikum - abgehoben. Dann dreht sie sich um, schaut ins Publikum, öffnet ihr schwarzes Haar, das knielang herabfällt. Sie beginnt zu schweben, zu kreisen: Bella Figura am Fleischhaken - oder wuchsen ihr Flügel?
Unterdessen sind wir längst beim zweiten Teil des Untertitels: den Stunts oder Stuntings, wie Holzinger es nennt. Da möchte man fast vergessen, dass über allem der Titel Tanz steht. Wenn auch die Künstlerinnen, wo immer im Bühnenraum sie gerade performen, in mehr oder weniger absurder Bewegung bleiben, so könnte man sich auch im Varietee vermuten, denn im Titel unerwähnt, zieht sich durch das gesamte Geschehen ein Hexenzirkel, inspiriert und ästhetisiert durch Dario Argentos Horrorklassiker Suspiria, der nicht zuletzt im Tanz- und Märchenmilieu spielt. In der Tat tanzt seit Beginn eine böse lachende Hexe mit dickem Hexenzahn vorm schwarzen Gebiss durchs Geschehen und hext und zaubert tüchtig herum: da verschwindet ein Mensch im dunklen Zauberkasten und kommt zum Baby geschrumpft wieder daraus hervor, um dann in einem riesigen, dampfenden Kochtopf versenkt zu werden. Eine Tänzerin mit riesigem Böse-Wolf-Kopf wird brutal, täuschend real gepfählt. Abgehackte Körperteile fliegen umher und ganz vorne am Bühnenrand kreißt die Alte (Beatrice Cordua) und gebiert eine schwarze Ratte: das alles mit literweise Theaterblut in Großaufnahme auf der Videowand noch zweimal zu sehen. (Die Cordua muss erwähnt werden, sie sorgte 1972 in Frankfurt in John Neumeíers Le Sacre du Printemps-Inszenierung für einen Riesenskandal: Sie tanzte ihr Solo nackt. Eine Provokation.)
Immer dabei: irrwitzige Musik, auch mal vielstimmigen a-cappella-Gesang von allen Beteiligten, da sind dann auch die „Luft-Expertinnen“ mit dabei. Und reden, reden, reden. Irgendwann wendet sich Holzinger direkt ans Publikum: erklärt, spielt ein Spielchen, die Leute machen mit.
Am Ende übernimmt die Alte wieder das Kommando: Die Tänzerinnen kommen zurück an die Stangen, auf der Videowand erscheint: The End.
Nach Lärm, Klamauk, Akrobatik, nach Zauberei, Horror und Femslash ein versöhnlicher Schluss.
Holzinger will nicht abrechnen mit klassischem Ballett, sie will transparent machen, aufmerksam machen, auf die Wirklichkeit, „dass man in einem Körper lebt“. Sie präsentiert ihre „Ästhetik der Nacktheit“, die davon ausgeht, dass die „Leute nach zwei Minuten sich damit abgefunden haben, dass da jetzt nackte Frauen sind“. Auch der große Regisseur Jürgen Gosch nannte die Nacktheit „ein Kostüm“. Richtig eingesetzt, ist sie heute wohl eine Selbstverständlichkeit. Florentine Holzinger und ihrer Truppe Performerinnen - zwischen zwanzig und fast achtzig - beweisen es.