Auf der Suche nach dem neuen Zeitmanagement
„Unsere Zeit ist wie der Himmel, wenn Wind ist“, heißt es in Moritz Rinkes Café Umberto. Um die Zeit solle es gehen in ihrem neuen Stück Cascade, sagt die Choreografin Meg Stuart, und einmal hat ihr der Bühnenbildner einen wunderschönen Sternenhimmel als Bühnen-Hintergrund gezaubert, einen Blick in die Weite des Kosmos, sehnsuchtsvoll ob seiner warmen Farben oder verloren ob seiner mutmaßlichen Kälte und Unbewohnbarkeit, das mag jeder für sich entscheiden. Die kosmischen Winde produzieren Nebel, der die Aussicht verschleiert. Die Zeit, in die wir da blicken, liegt Lichtjahre zurück. Für uns ist sie wie konserviert.
Unsere Zeit hat sich seit Erscheinen von Rinkes Stück im Jahre 2005 allerdings verändert. Die Uraufführung von Cascade war vor exakt einem Jahr ebenfalls bei der Ruhrtriennale geplant. Sie musste coronabedingt insgesamt achtmal verschoben werden. Und so denkt man naturgemäß zunächst an Corona, wenn Davis Freeman das Publikum nach einer langen, ruhigen, text- und tanzlosen Anfangs-Sequenz begrüßt: „Welcome back. It’s been long; it’s been too long. … You remember these things of enabling and feeling and touching without thinking about it?“ – To be honest: Things have come to a real Stillstand, und genau das scheinen die ersten Bilder der Aufführung zu dokumentieren. Ein paar riesige aufgeblasene Luftkissen dominieren die Bühne, in der Himmels-Metapher könnten es auf den Boden gefallene Wolken sein; der Schreiber dieser Zeilen glaubte sie bald als stilisierte Gebirgslandschaft definieren zu können, und irgendwann später dienen sie ganz banal als Hüpfburgen für eine aufgedrehte energetische Tanzkompanie, die ihre Kräfte ausprobieren möchte. Marcio Kerber Canabarro taucht hinter den Luftkissen auf und zieht sich langsam und mühsam an einem Bergsteiger-Seil in die Höhe; andere Tänzer folgen krabbelnd oder hangelnd und rutschen auch einmal wieder ab. In Verbindung mit der extrem reduzierten und verlangsamten Musik weckt diese Anfangs-Szene den Gedanken an eine düstere Endzeit. Oder an den Lockdown, an eine tödliche Pandemie, in der die Menschen sich versteckten und nach deren Überwindung die Zeit eine andere sein mag.
Doch jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne, und jedem Anfang auch ein neuer Zauber. Immerhin kraxeln unsere Bergsteiger wieder, vorsichtig noch, unsicher, aber irgendwie auch zunehmend neckisch. Pieter Ampe rutscht in Zeitlupe und im Eisläuferinnen-Kostüm die Rampe am rechten Bühnenrand herunter, die man wahlweise als die Halfpipe einer Skater-Bahn oder als Stummel einer Skisprung-Schanze begreifen darf, und unsicher versucht er sich in den Bewegungen eines Eisschnellläufers. Mor Demer übt sich als Rückenschwimmerin, und mit Hilfe eines Flaschenzuges werden die Netze mit dem undefinierbaren Pröll bewegt, die drohend über der Bühne schweben. Life is back - Rückschläge nicht ausgeschlossen, denn das Netz stürzt ab und erschlägt um ein Haar zwei der großartigen Performer; ein anderer wird darin gefangen genommen.
Dann erst folgt diese merkwürdige Nach-Corona-Begrüßungsrede von Davis Freeman, der auch Mitglied der legendären Truppe von Forced Entertainment ist, deren Chef Tim Etchells die drei zaghaft optimistischen Texte geschrieben hat, die Meg Stuart in ihre choreografische Performance eingebaut hat. Die übrigen beiden Texte werden von Jason Batut respektive Isabela Fernandes Santana gesprochen. Leider wirken alle drei eher banal, aber sie werden bedeutungsschwanger vorgetragen. Nicht zum ersten Mal zeigt sich, dass Tanztheater-Kompanien ihre Gedanken oft besser durch den Körper als durch Worte ausdrücken können.
Denn die Körper legen jetzt los. Nach dem Stillstand erwacht die Welt zu neuem Leben. Die Choreografin will untersuchen, ob es möglich ist, der Vergänglichkeit und Linearität der Zeit zu widerstehen. Was auch heißt: nach der Krise (die nicht nur Corona-Krise sein muss, sondern auch Klimakrise, Finanzkrise, Krieg oder sonst etwas sein kann) eine neue Welt zu schaffen, eine neue Zeitlichkeit, in der eine jede und ein jeder sich auf neue, individuelle Weise zurechtfinden muss. Die Zeit als Kaskade, in der „verschiedene Realitäten gleichzeitig existieren“, will Stuart auf die Bühne bringen. Das ist ein sehr theoretischer Ansatz, der Otto und Julia Normalzuschauerin viel zu komplex ist. Sie sehen auch so, was die neue Welt mit sich bringt: wie die Menschen nach neuen Wegen suchen, wie sie neue Räume schaffen, sich gegenseitig stützen und tragen, aber auch einander ausweichen und miteinander kämpfen, wie sie straucheln und wieder aufstehen. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, und so gibt es nur ab und an gemeinsame Tänze und Choreografien, auch wenn permanent alle in hochenergetischer Bewegung sind. Interaktion zwischen den Tänzerinnen und Tänzern findet satt, aber immer nur vorübergehend und manchmal einfach nur zufällig. Ruhepausen, Phasen des Nachdenkens und Innehaltens sind wichtig, wenn es gilt, eine neue Balance zu finden, aber es gibt auch Rausch und Ekstase. Stuart zeigt all das in den auf den etwas langatmigen Beginn folgenden eineinhalb Stunden auf durchaus mitreißende Weise, auch wenn wir uns besser nicht die Frage stellen, ob die Anforderungen der neuen Post-Krisen-Welt so viel anders sind als vor der Krise. Stets galt doch: Nach der Krise ist vor der Krise, und schon seit Jahrzehnten fordert die rasante Veränderungsgeschwindigkeit Nachdenken, Neuorientierung und Widerstand.
Meg Stuart hat all dies überzeugend und unterhaltsam auf die Bühne gebracht. In ihrem Leitungs-Team hat sie dafür die Top Names der internationalen Performance-Szene versammelt: Tim Etchells von Forced Entertainment als Texter, Philippe Quesnes, den legendären Gründer des für seine skurrilen, poetischen Aufführungen berühmten Pariser „Vivarium Studios“, für das Bühnenbild, Aino Laberenz für die Kostüme und Brendan Dogherty, dessen Musik bereits Stuarts vielleicht größtem internationalen Erfolg „Violet“ zugrunde lag, für die Komposition. Gemeinsam mit Philipp Danzeisen bildet Dogherty live auf der Bühne ein herausragendes Drummer- und Schlagzeug-Duo, das mit seinen oft treibenden Rhythmen die Tänzer nicht nur begleitet, sondern eigene Impulse zu setzen scheint. Trotz einiger Längen gibt es verdientermaßen langen Applaus.