Übrigens …

I am (VR) / Vortex im Bochum, Schauspielhaus

Brillenwechsel: neue Perspektiven im Theater

I am (VR)“

eine Virtual Reality Installation von Susanne Kennedy & Markus Selg mit Rodrik Biersteker

Text: Susanne Kennedy

Visuelle Gestaltung: Markus Selg, Rodrik Biersteker

Sound Design und Komposition: Richard Janssen

Premiere 17. Februar 2021 im Goethe-Institut Tokio in Kooperation mit dem Theater Commons Tokyo

besucht am 18. November 2021 in Bochum

 

Vortex“

Koproduktion mit EPIDEMIC Paris

von Ulf Langheinrich und Maria Chiara de’Nobili

Künstlerische Leitung und audio-visuelle Komposition Ulf Langheinrich

Choreografie Maria Chiara de’Nobili

Uraufführung am 17. Oktober 2020 im Hellerau Europäisches Zentrum der Künste Dresden

besucht am 18. November 2021 in Bochum


Ich: „Wo hab‘ ich denn nun schon wieder meine Brille?“ – Die wechselnden freundlichen Mitarbeiterinnen des Schauspielhauses Bochum: „EINE haben Sie auf der Nase.“ - Gleich mehrfach wiederholte sich dieser Dialog. Er war kein Satyrspiel, das auf ungewöhnliche Kunstereignisse folgte, sondern banale Realsatire. Wie soll man als digitaler Legastheniker auch nicht durcheinander geraten an einem solchen Theatertag?

 

Mit VR-Brille zum Orakel: Susanne Kennedy führt auf einen Selbsterfahrungs-Trip

 

So you find it difficult being by yourself?“, raunt eine elektronisch leicht verzerrte Stimme. Ganz allein stehe ich in der primitiven kleinen Hütte, die das Schauspielhaus Bochum im oberen Foyer aufgebaut hat, habe Kopfhörer und VR-Brille aufgesetzt und finde mich in eine quietschbunte neue Welt versetzt, die irgendwo zwischen griechischer Mythologie und Science Fiction angesiedelt ist. Einen psychedelischen Selbsterfahrungs-Trip hat die häufig mit spartenübergreifenden Projekten und ungewöhnlichen ästhetischen Erlebnissen überraschende Theaterregisseurin Susanne Kennedy versprochen. Mit Zwischenreichen kennt sie sich aus: Man denke nur an ihre Sterbe-Übung „Orfeo“ in der Mischanlage der Zeche Zollverein bei der Ruhrtriennale 2015 (http://theaterpur.net/theater/musiktheater/2015/09/triennale-orfeo.html).

Welcome to the other side“ also. Dort mache ich mich auf die Reise zu einem Orakel, das mir die eine, entscheidende Frage beantworten wird, die ich mir bitte auf dem Weg schon mal überlegen soll. Doch noch, raunt die Stimme, sei ich nicht vorbereitet für den Kontakt mit dem Orakel. Es geht schließlich um die Suche nach Selbsterkenntnis, und für die hat der Verkehr auf der A 40 nicht gerade empfänglich gemacht. Avatare werden mich leiten und mehr oder weniger erfolgreich meine spirituelle Weiterentwicklung befördern. Meinen Körper hat die VR-Brille erstmal weggezaubert. So muss ich mich auf Geist und Seele konzentrieren.

Die neue Welt betrete ich durch einen engen Gang, nach dessen Durchschreiten ich mit schwer atmenden Leichen konfrontiert werde. Oder wie sonst soll man die Avatare nennen, die flach ausgestreckt auf dem Boden liegen und deren Brust sich hebt und senkt als hätte jemand sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen? Von „Durchschreiten“ allerdings kann streng genommen nicht die Rede sein, denn ich stehe still auf einem Fleck. Die VR-Technik suggeriert, dass ich selbst mich bewege oder auf einer Gleitschiene durch die neue Welt bewegt werde. Solange ich noch realisiere, dass das Fake ist, dürfte das Orakel wenig mit mir anfangen können…

Ich darf entscheiden, wie ich meinen Weg fortsetzen möchte. Zum Start wähle ich das „Narrativ“ und gleite in einen kleinen, mit vielen Zeichnungen - vielleicht futuristischen Retro-Höhlenzeichnungen - dekorierten Raum. Atmende Leichen, futuristische Retro-Zeichnungen - die neue Welt hält manche Überraschung parat. Widersprüche mag man das nicht nennen, denn man befindet sich in einer Fantasy-Welt von gigantischen Dimensionen, gleitet über Berg und Tal durch eine wildromantische, spektakuläre Landschaft. Mythologie meets Fantasy meets Videogame - so etwa könnte man das Abenteuer beschreiben, für das die im vergangenen Jahr mit dem Theaterpreis FAUST ausgezeichneten Markus Selg als Bühnenbildner und Rodrik Biersteker als Programmierer und eine beeindruckende virtuelle Realität geschaffen haben.

Da mich der „Elevator“ nach der Station im Narrativ abgelehnt hatte („You are not prepared for this option yet!“), lande ich wunschgemäß in einem Märchenwald. Kontemplativ ist jede Station angelegt, denn schließlich soll ich ja die Fähigkeit zu Selbstfindung und Selbsterkenntnis erlernen. The holy VR set makes me lie down in green pastures: Fast giftgrün hat der Schöpfer dieser Welten das in sanfter Brise schaukelnde Gras und die Blätter des Zauberwaldes gestaltet, auf die ich mich, der warmen Stimme in meinem Ohr folgend, konzentriere. Ein einziges Mal gibt es Verstörendes: „Now think of fire“, raunt die Stimme. Eine Sekunde später brennt der Wald - ein bisschen zumindest. Am Eingang hatte man schon gewarnt: „When you think of fire, there will be fire. And when you think of war, there will be war.“ Der Krieg bleibt aus, dem Schöpfer sei Dank.

Dafür darf ich jetzt in den „Elevator“. Rätselhaft: Ich glaube den Druck der vertikalen Beschleunigung zu spüren, obwohl ich ja nach wie vor auf dem Teppich der Bochumer WeltHütte sitze. „I am a spaceman flying high, I am the astronaut in the sky“, würde Amy Macdonald jetzt jubilieren: Es ist ein erhebendes Gefühl, vorbei an fremden Planeten und Sternen zu fliegen und zu wissen, dass man gleich dem futuristischen Nachfahren des delphischen Orakels gegenüberstehen wird. Eine überzeugende Frage ist mir immer noch nicht eingefallen - was einem in solchen Situationen durch den Kopf geht, ist allzu abgegriffen und steht entweder in der Zeitung oder stammt aus dem letzten Ehekrach. Als ich den Aufzug verlassen habe und bevor ich das Orakel treffe, reise ich noch lange durch die schöne neue Welt. Die Hierarchien sind dort keineswegs abgeschafft: Schon weit vor dem Arbeitsplatz des magischen Sehers empfangt mich ein entzückender Spielzeug-Avatar und gibt letzte Anweisungen. Bei manchem Unternehmens-Boss oder Oberbürgermeister ist das ähnlich: Wenn man den Vorzimmer-Drachen überwunden hat, läuft man noch ein paar Kilometer, bevor man endlich klein mit Hut vor dem Schreibtisch des Allmächtigen steht.

Das aber wollte Susanne Kennedy uns ganz bestimmt nicht sagen. Sie hat uns tatsächlich ein wenig auf uns selbst zurückgeworfen. Der Text, den sie selbst dazu verzapft hat, ist… ach, reden wir nicht drüber. Denn schön war die Reise, ganz allein durch die Tiefe des Raumes. „It’s you, it’s you, it’s all for you“, singt Lana Del Rey in ihren „Video Games“.

 

Mit 3D-Brille zum Orgasmus: Ulf Langheinrich zeigt eine Performance beyond body

 

Zwei Stunden später, eine Tür weiter: in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum. Ungelogen: Fünfmal - dreimal per E-Mail, zweimal persönlich am Abend der Aufführung - wurde vorab gewarnt: Es werde über erhebliche Zeiträume mit Stroboskop-Lichteffekten gearbeitet; für Personen mit Epilepsie, gravierenden Herzproblemen oder klaustrophobischen Ängsten sei der Besuch nicht geeignet. Am Eingang werden einem die Ohrstöpsel geradezu aufgedrängt. Ich schiebe sie ganz weit weg.

Tatsächlich wird es gar nicht so laut. Nur unangenehm: Der elektronische Sound, den Ulf Langheinrich für den spartenübergreifenden Tanz-, Performance-, Film- und Lichtkunstabend komponiert hat, geht unter die Haut. Nur geringfügig variiert, hat er gleichzeitig etwas Maschinenartiges und etwas Hypnotisches. Es sind keine Disharmonien, die da erklingen, aber da ist etwas, was an den Nerven sägt, etwas Undefinierbares, Neuartiges, irgendwie Bedrohliches. Man wünscht es sich harmonischer und möchte es doch nicht missen, es ist kein Wohlfühlprogramm und doch konstituiert es eine Atmosphäre, die mehr schafft als nur einen Kommentar zu den Bildern, die wir auf der Bühne sehen. Der Sound ist ein eigenständiges Kunstwerk, das teilweise sogar gegen die Bilder zu arbeiten scheint. Die Dezibel-Zahl? Sie mag manche sensiblen Gemüter überfordern. Aber sie ist es nicht, die schmerzt. Nur was ist es sonst?

Vortex“ besteht aus drei Teilen. „Beyond dance, beyond body, beyond image“ sei seine Kreation, hatte Ulf Langheinrich vor der Premiere am Hellerau Zentrum der Künste gesagt. Nur im ersten Teil treten vier Tänzerinnen auf. Doch ist das wirklich Tanz, was die vier da performen? Das Einzige, was sich in der Choreografie von Maria Chiara de‘Nobili nicht bewegt, sind die Beine der Performerinnen. Arme, Hände, Kopf und Oberkörper zucken im Dauerfeuer des Stroboskoplichts. Ein solches Strobolight-Gewitter hat die Welt noch nicht gesehen: Rot, gelb, orange und in allen Zwischentönen dieser alarmistischen Farben flackert es fünfzehn bis zwanzig Minuten lang auf die Zuschauer ein. Die meisten schließen die Augen, was ein Fehler ist: Die Augen gewöhnen sich nach einigen Minuten an die Zumutung. Sie hören auf zu protestieren und stellen Fragen: nach dem Zusammenhang zwischen Tanz und Erotik zum Beispiel - und wie man diesen scheinbar so positiv konnotierten Zusammenhang in sein Gegenteil verkehren kann.

Die Tänzerinnen stehen vor vier rechteckigen Leuchtboxen (das erinnert an die „Kraftwerk“-Ästhetik) und tragen nichts als ultraknappe Slips und ein schmales Brustband. Sie greifen sich an die Brüste, ins Gesicht, ans Höschen. Doch die hypererotischen Signale werden konterkariert durch die Musik, die Lichtblitze und die mangamäßigen Gesichter der jeder Individualität beraubten Performerinnen. Das hier ist eher Kampf als erotisches Werben, das ist Selbstbehauptung statt Unterwerfung: Ekstase ja, Genuss nein. Durch das Stroboskoplicht wirken die Bewegungen der Tänzerinnen nicht fließend, sondern abgehackt, wie eine im Zeitraffer gezeigte rasante Folge von Fotos. Aber da stehen keine sexy Girls, keine Unterwäsche-Models, die sich dem männlichen Blick ausliefern, sondern zuckende Puppen, die meist nur in ihren Konturen wahrnehmbar sind. Jeden Gedanken an Erotik schleudern sie kraftvoll auf den voyeuristischen Zuschauer zurück. Und da passt dann die Musik: Man denkt an Maschinen, nicht an Sex. Diese Geschöpfe genügen sich selbst.

Nach der Umbaupause ist wieder mal Brillenwechsel angesagt: Die beim Einlass ausgehändigte 3D-Brille kommt zum Einsatz. Auf einer Videowand erscheint über nackten Schultern auf weißem Linnen ein weibliches Gesicht in Großaufnahme. Es drückt Lust und Leiden aus, Ekstase und Schmerzen. Der Sound kommt vorübergehend zum vollständigen Verstummen. Man begreift, dass man gerade einem Geschlechtsakt beiwohnt. Je nach der Veränderung des Gesichtsausdrucks der Frau wachsen die Befürchtungen, es könne sich um erzwungenen Sex handeln. Wenn man die Lust erkennt, die Entspannung nach dem Orgasmus, ist man beruhigt. Postkoitale Traurigkeit setzt ein, und als Zuschauer fühlt man mit. Nie ist man in der Position des Voyeurs, eher in der des bangend Mitfühlenden. Doch alles ist interpretierbar, da man ja nichts sieht außer einem Gesicht, das außer sich ist. Man denkt auch an den Anfang und das Ende der Zeugung: Der Orgasmus der Frau beim Zeugungsakt und der Schmerz bei der Geburt des Kindes liegen nah beieinander, wenn man diese Gesichtsausdrücke sieht.

Flackernde, changierende Farbtafeln beenden den kurzen Abend. Leinwandflimmern. Herzflimmern. Die rechteckigen Lichttafeln wechseln in hohem Tempo von rot zu blau zu anderen Farbkombinationen; selten sind sie monochron. An Aug‘ und Ohr und Psyche durchgeschüttelt verabschiedet man sich von einem beeindruckenden Multimedia-Kunstwerk, das mehr Installation als Performance ist. Bochum war wieder mal Ort der Avantgarde. Toll.