Standard im Ringlokschuppen Mülheim/Ruhr

Abstrakte Skulpturen tanzen im Schuppen

Die Standardtänze auf den Kopf gestellt: Köpfchen in das Wasser, Hintern in die Höh'. Dazu Beine schütteln wie die Standardtänzer die Arme und mit den Fingern die berüchtigten Kringel der klassischen Tänze auf den Boden zeichnen: So ungefähr funktioniert die Dekonstruktion des Gesellschaftstanzes, die CocoonDance in seiner jüngsten Produktion unternimmt. Der Gesellschaftstanz, so beschreibt es die Bonner Kompanie CocoonDance, sei über Jahrhunderte hinweg „als die Verkörperung von Menschsein, Würde und Disziplin“ erschienen: „In ihm spiegeln sich Paradoxa aus Freiheit und Kontrolle, Improvisation und Notation, Verlangen und Selbstführung“. 

All das gibt es bei der Dekonstruktion des Gesellschaftstanzes auch - naja, vielleicht das Menschsein nicht. Den drei Tänzerinnen und drei Tänzern hat man die Brust getapet; in ihren leicht glitzernden Hosen wirken sie wie asexuelle Aliens. Ganz leise setzt die Musik ein; erste Bewegungen der Oberkörper, kreisende Hüften erinnern zwar an das klassische Tanz-Repertoire, doch erscheinen die Bewegungen abgehackter, wie zerlegt in ihre Einzelteile. Wenn sie, die Köpfe nah am Boden, die Körpermitte ganz oben über den Gliedmaßen, zunächst langsam, später immer schneller über die Bühne wirbeln, sieht man ihre beeindruckenden Rückenmuskeln; die einzelnen Rippen zeichnen sich ab. In hohem Tempo laufen sie seitwärts auf allen Vieren, immer mit dem Gesäß als höchstem Körperteil. Verblüfft realisiert man, dass man als Zuschauer nach einiger Zeit die dem Zuschauer meist zugewandten Rücken und Hinterköpfe als die Vorderansicht der fremden Wesen wahrnimmt, die mit einer unerklärlichen Magie gefangen nehmen. Man ist bereit, die Wesen als asexuelle neue Bewohnerinnen oder Bewohner unserer Welt zu akzeptieren. Längst ist der Sound inzwischen wummernder geworden; Klopfgeräusche und Schlagzeug-Töne haben sich unter die Harmonien gemischt.

Die Performerinnen und Performer bewegen sich mal im Pas-de-deux, mal einzeln, mal in größeren Formationen. Auf dem spiegelnden Tanzboden des Ringlokschuppens zeichnen sich wunderschöne Bilder ab, die abstrakten Skulpturen gleichen. Gegen Ende formieren sich drei Paare, die jeweils an den Köpfen miteinander verbunden sind. Ringen sie miteinander? Oder haben sich in der Welt dieser Vierfüßler Paare gefunden, die nun eine Lebens(abschnitts)gemeinschaft miteinander eingehen?

Die makellose Choreografie von Rafaële Giovanola versetzt uns optisch und akustisch in eine neue, fremde Welt. Die macht neugierig und weckt die Entdeckerfreude eines Biologen. Die Wesen haben Freiheit gewonnen von den Regeln des menschlichen Seins, aber an Disziplin mangelt es ihnen nicht. Und an Würde nicht minder.