Übrigens …

Passion im Theater Münster

Eilt, ihr angefochtnen Seelen

Es ist ein Abend der Abschiede: Hans Henning Paars letzte Choreografie als Chef des Tanztheaters Münster und damit auch ein Goodbye für seine Compagnie, die Paar in den letzten zehn Jahren geformt hat. Und die in Münster viele Anhänger*innen gefunden ,sich von Erfolg zu Erfolg getanzt hat. Folgerichtig also, dass es Ex-Intendant Ulrich Peters ist, der Hans Henning Paar am Ende einen Rosenstrauß überreicht und ihm bewegt und bewegend für eine sehr lange Zusammenarbeit dankt. Das Publikum untermalt die Abschiedsworte mit Standing Ovations und sorgt für bewegende Gänsehautmomente.

Passion heißt die letzte Choreografie die Hans Henning Paar seinem münsterschen Publikum zum Geschenk macht. Passion steht für Leiden, steht aber auch für Leidenschaft, wenn man die englische Sprache zugrunde legt. Und beides vermittelt Paar in seiner Sicht auf Johann Sebastian Bachs Johannespassion.

Paar lässt seine Truppe auf einer Bühne agieren, die von schweren, bräunlich-goldenen Vorhängen begrenzt wird. Ein großer länglicher Balken ist Mittelpunkt der Bühne - bedrohlich wie das Kreuz für Jesus, aber auch Tisch für das Abendmahl. Ob seiner Bühnenbeherrschung ist dieses Element bisweilen etwas zu aufdringlich.

Bach lässt in seiner Johannespassion vor allem den Chor sprechen, veranschaulicht die Wirkung des Leidens und Sterbens Christi auf das Volk, zeigt sowohl Mitleiden als auch gnadenlose Raserei und Hetze gegen Jesus. Das bietet Paar die Möglichkeit, die Stärken seiner Compagnie in großartigen Ensembles auszuspielen. Individualität der einzelnen Tänzer*innen wird ebenso betont und herausgearbeitet wie kraftvolles Agieren in der Gruppe. Und hier zeigt sich das Vermögen von Paars Tänzer*innen: María Bayarri Pérez , Chiara Bonciani , Enzo Convert , Marieke Engelhardt, Eleonora Fabrizi, Ilario Frigione, Fátima López García, Matteo Mersi, Tsutomu Ozeki, Tarah Malaika Pfeiffer, Adrián Plá Cerdán, Enrique Sáez Martínez, Raffaele Scicchitano, Charla Tuncdoruk und Leander Veizi können in den selben Momenten Gruppendynamik evozieren, ohne individuelle Erscheinung zu vernachlässigen. Das beweisen sie an Paars Abschiedsabend eindrucksvoll. Jederzeit werden Reaktion auf das Geschehen des Leidens Jesu beglaubigt.

In Bachs Arien werden Akzente vertieft. Und hier gibt Paar seinen Ensemblemitgliedern die Gelegenheit, individuell Emotionen ins Publikum zu tragen. Auch die Gesangssolisten können glänzen, die Paar perfekt ins Bühnengeschehen einbindet und ihnen Möglichkeiten zur darstellerischen Entfaltung eröffnet. Eva Bauchmüller singt ein hüpfendes, freudiges „Ich folge dir gleichfalls“ und auch Stefan Sbonnik lässt seinen kraftvollen Tenor ertönen. Er kann auch darstellerisch glänzen. Das gilt auch für Gregor Dalal, der die Jesus-Worte singt. Er ist geradezu beseelt und durchdrungen von seiner Rolle. Aufhorchen lässt Dorothea Spilger. Klar und durchdringend verkündet sie „Es ist vollbracht“. Stephan Klemm ist ein Pilatus, der zweifelt und dem immer klarer wird, wie unschuldig Jesus ist. Raphael Wimmer singt den Evangelisten vom Balkon des ersten Ranges aus. Durchdringend erzählt er die Leidensgeschichte, lässt keinen Zweifel an deren tiefgreifender Bedeutung.

Was die musikalische Seite dieser Choreografie angeht, ist viel Schatten. Es wird zwar live musiziert, was prinzipiell erfreulich ist. Der Klangeindruck indes enttäuscht: streckenweise wirkt es, als kämen Gesang und Orchester aus einer (schlechten) Konserve. Der Chor agiert auf der Hinterbühne mit Mikrofonen, Solist*innen mal mit, mal ohne Microport… - das verwirrt. Auch klingt das Sinfonieorchester Münster, anfangs kaum hörbar angesichts des ohrenbetäubenden Brausens einer fürchterlichen Elektronenorgel, im weiterem Verlauf stets matt, als spiele es durch eine Wand aus Watte. Die Tempi, ganz gleich ob in den Arien oder den Chorälen, schleppen sich breit und behäbig durch den Abend und sind vermutlich der Vorgabe der Choreografie geschuldet, alles möglichst ausdrucksvoll zu halten. Mit dem Ergebnis, dass etwa das „Eilt, ihr angefochten Seelen“ - pars pro toto - allenfalls als gemütlicher Spaziergang nach Golgatha daherkam. Ästhetisch erinnert die Musik an längst vergangene Zeiten. Auch der Opernchor lässt viele Wünsche offen. Er scheint mit Bach stilistisch und handwerklich überfordert. Da klappern sowohl Einsätze als auch Schlüsse und man ist sich nicht wirklich einig, ob nun mit oder ohne Vibrato zu singen ist. Also keine klare ästhetische Ausrichtung. Schade! Da ist noch viel Luft nach oben...