Übrigens …

Mal - Embriaguez Divina im tanzhaus nrw

Totalitäre Ekstase

Göttlicher Rausch“ nennt die von den Kapverden stammende Choreografin Marlene Monteiro Freitas ihre Arbeit, die eigentlich bereits zum Ende der Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen herauskommen sollte und dort pandemiebedingt nicht mehr gezeigt werden konnte. Ein Rausch mag das sein, den die Wesen auf der Bühne entfachen. Sie versetzen sich oftmals selber in Ekstase. Aber dieser Rausch ist „mal“ - böse, in jeder Hinsicht vom Übel. Man verfolgt ihn mit Unbehagen. Wer „Rausch“ mit Trunkenheit assoziiert und ein chaotisches, vielleicht gar fröhliches dionysisches Gelage erwartet, ist überrascht ob der militärischen Disziplin, die in vielen Szenen der Choreografie herrscht. Der Rausch dieser Götter ist beunruhigend, und mit ihren grenzdebilen Gesichtern erwecken sie auch nicht gerade den Eindruck, als verfolgten sie einen intelligenten Plan. Doch sind sie massiv manipulativ. Dass es sich um himmlische Wesen handelt, sei hiermit nachdrücklich angezweifelt.

Dabei beginnt alles ganz harmlos. Hinten vor der Bühnenrückwand trainieren ein paar Sportler Volleyball. Sie pritschen sich ein paar Bälle zu - nicht kompetitiv, sondern freundschaftlich, zur Körperertüchtigung. Doch unter dem tanzhaus ist nicht der Strand, sondern ein Gefängnis. Ein riesenhafter gesichtsloser Soldat marschiert auf. Unbedingt abwehrbereit, das Maschinengewehr geschultert, bewacht er die Szenerie - und damit uns gleich unwohl wird, konfrontiert er das Publikum. Stimmen aus dem Off suggerieren einen scheinbar tödlichen Kampf: Film-Fans erkennen Audio-Ausschnitte aus David Lynchs „Blue Velvet“, aus der Szene, in der der kriminelle Psychopath Frank Booth die Nachtklub-Sängerin Dorothy zu seiner Sex-Sklavin macht. Ist Frank einer der Insassen des Gefängnisses, einer der Volleyballspieler gar?

Nein, so konkret wird Freitas nicht. Auf einer Tribüne nimmt auf dem Platz des Königs (oder des obersten der Götter?) eine untersetzte Figur mit autoritärem Gehabe Platz: ein blinder König mit einer undurchsichtigen weißen Papierbrille und einer lächerlichen weißen Papierkrone. Weiß ist auch die Fahne, die der Wachmann nun schwenkt - nicht zum Zwecke der Kapitulation, sondern zum Anheizen eines Volksfestes. Lautstarke, trommelnde Rhythmen lassen an verfremdete afrikanische Folklore denken, doch die Musik und die Bewegungen werden bald aggressiver. Der blinde König dirigiert mit immer irrsinnigeren Schreien und Bewegungen eine Choreografie seines zwar sehenden, aber blind folgenden Volkes. Unter ehrerbietigen Verbeugungen wird eine Bank hereingetragen - mit was für einem verrückten und gleichzeitig autoritären Regime haben wir da zu tun, mit was für einem unterjochten Hofstaat, der diesen Irrsinn längst freiwillig mitmacht?

Der rückt nun auf die Tribüne ein. In ihren uniform blauen, Assoziationen an die Mao-Diktatur weckenden Kostümen, mit ihren abgehackten Automaten-Bewegungen und ihren im wahrsten Sinne des Wortes irr-sinnigen Gesichtern wirken die Performer wie gleichgeschaltete Vertreter (in manchen Szenen auch Opfer) eines totalitären Regimes; auf der Tribüne erinnern sie an das stets bedrohlich wirkende und gleichzeitig lächerlich aussehende, wie choreografiert agierende Parlament eines Xi Jinpin oder Kim Jong-un, wo Individualität nicht zugelassen ist. Doch sage keiner, bei den Genossen Xi oder Kim werde keine Aufbauarbeit geleistet, keine Toleranz gelebt: Aus Papier wird eine wunderschöne orientalische Stadt mit Sakralbauten aller Religionen gebastelt. Man möchte gern an so etwas wie Poesie glauben, zumal ein schönes folkloristisches Lied erklingt, aber anders als die bastelnde Baukolonne im Parlament kann der Zuschauer die Geräusche der Detonationen nicht ignorieren, die von irgendwo außerhalb der Mauern erklingen.

Ob der Abgeordnete, der sich nicht mehr am Städtebau beteiligt, sondern Papierflugzeuge gegen das Netz schleudert, das das Publikum von den Performern trennt, sich auflehnt, Individualität behaupten will? Wir wissen es nicht. Es wäre eh vergebens: Sirenen heulen, die Stadt wird rasch vom Tisch gewischt (zerstört, bevor sie in die Hände des Feindes fällt?). Die Musik suggeriert Verfolgungsjagden wie bei alten Hollywood-Filmen; kurz erklingt das Motiv von „Jesus Christ Superstar“. Die verrückten Götter rucken und zucken wieder wie Automatenmenschen, lassen die Zunge aus ihren debilen Gesichtern hängen, und viele von ihnen sind sprachgestört. Sorry, aber: Die hamse nicht mehr alle, denkt man - und schon wird einem unwohl, denn man weiß nicht, ob dieser Gedanke nicht ein unverzeihlicher Verstoß gegen die political correctness ist. So virtuos wie gnadenlos spielt Freitas mit politisch inkorrekten Bildern, mit der Darstellung von Versehrtheit von Figuren, die eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen. Die Darstellerin des Göttervaters oder Königs entpuppt sich nun als die mosambikanische Tänzerin Mariana Tembe, die tatsächlich versehrt ist: Ihr fehlen beide Beine. Verblüffend schnell flitzt sie über die Bühne, tanzt sie auf dem Tisch - und alle anderen flippen aus vor guter Laune. Nur wirkt das ekstatisch Gutgelaunte nicht erleichternd, sondern irre und gefährlich.

Und schon ist die aus dem Ruder gelaufene Ekstase wieder einer der Gleichförmigkeit und der Durchsetzung einer bürokratischen Ordnung gewichen. Es wird gestempelt und sortiert – das unmenschliche Funktionieren einer Bürokratie ohne Ansehen des Einzelfalls wird versinnbildlicht. Der König scheint nun abgelöst. Auf seinem Stuhl hat nun ein schwarzer Superman Platz genommen, der eine Choreografie zu Gesten der Unterwerfung dirigiert. Doch auch der ist ein Automatenmensch - so wie er keine Individualität zulässt, darf er auch selbst keine haben. Die Performerinnen auf den Parlamentsbänken verwandeln sich nun in Richter, die mit dummem Blick spuckende Geräusche von sich geben - in der Diktatur ist auch die Gerichtsbarkeit entmachtet und hat keine eigene Stimme. Eine so bedrückende wie mitreißende Applaus-Choreografie setzt ein; dem wieder blinden neuen Vorsitzenden gelten hingebungsvolle Blicke. Fußball-Gesänge verwandeln sich nahtlos in aggressives Kampfgeschrei einer vorbeiziehenden Demo. Wie schnell doch Enthusiasmus ausarten kann in Bedrohung, in einen bösen, teuflischen Rausch!

Und dann, plötzlich: bricht die Anarchie aus. In den Tänzen, in den Bewegungen, in den lautstarken, nein: lärmenden Geräuschen. Das ist so unangenehm wie die Diktatur zuvor. Ist das nun die Freiheit? „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter“, heißt es, als sich alles beruhigt hat. Kafkas Türhüter-Parabel wird in voller Länge zitiert. Und wieder: Detonationen. Schüsse. Brot und Spiele. Wer weiß, vielleicht werden in den Stadien, aus denen die Fußballgeräusche erklingen, gerade die Gefangenen einer Diktatur erschossen. Am Ende jedenfalls bleibt einer der Performer tot zurück. Erschreckend. Und ein hammerstarker, unvergesslicher Abend im tanzhaus nrw.