Übrigens …

Double Murder (Clowns / The Fix) im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Der pessimistische und der optimistische Blick auf die Gesellschaft

Sonst beginnt es immer gleich mit rassigem Tanz. Aber diesmal begrüßt uns ein Mitglied der Hofesh Shechter Company bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen mit viel Gesülze: Wie schön es sei, nach der Pandemie wieder reale Menschen im Parkett vor sich zu sehen. Man sei froh, „back to normal“ zu sein. Aus dem Off ruft eine Tänzerin: „A new normal!“

Double Murder heißt Shechters neuer Tanzabend, und das verspricht wenig Harmonie. Doch im zweiten Teil dieses Doppelabends (The Fix) wird Shechter eine Utopie wagen: Er wird zeigen, dass die Rückkehr zu einer neuen Normalität, die Möglichkeit zu Nähe und Fürsorge nach zwei Jahren der Isolation zu einer neuen Solidarität unter den Menschen führen kann. Wenn aber das „the new normal“ ist, was uns die Tänzerinnen und Tänzer bei Clowns, dem ersten Teil des Abends, zeigen, dann gnade uns Gott. „Und es soll wissen jedes Kind / Dass da meist böse Menschen sind / Unter den Clowns dieser Welt“, sang schon Ludwig Hirsch im Jahre 1979.

Anstelle der sonst bei Hofesh Shechter üblichen dunklen Kleidung gibt es helle, weiße Kostüme mit etwas folkloristisch anmutenden Applikationen. Tatsächlich springt das fröhliche Ensemble ausgelassen über die Bühne. Die Bewegungen erinnern an Volkstänze. Nach kurzer Zeit muss zwar eine Tänzerin wiederbelebt werden, aber die Laune ist prächtig. Boxhiebe gegen die Kollegen Ensemble-Mitglieder sind an der Tagesordnung, aber wer gerade nicht KO geht, ist weiter in aufgekratzter Stimmung. Hipp Hipp Hurra, hatte das Ensemble schon zu Beginn mit dem Publikum eingeübt. Feiern bis der Arzt kommt (beziehungsweise gar nicht mehr nötig ist). – Und Black.

Dann endlich: Der typische Shechter-Sound, ein dunkles, irgendwie bedrohliches Brummen. Aus dem Black leuchten langsam Lichter auf, die wie Grablichter wirken, bevor sie mehr und mehr aufgeblendet werden. Nebelsäulen steigen auf, von fern hört man Trommelschläge, die an Bomben-Explosionen erinnern. Wenn es lauter wird – und bei Shechter wird es immer laut – verliert sich diese Assoziation, aber die ursprünglich im Jahre 2016 für das Nederlands Dans Theater kreierte Choreografie wird noch häufiger an aktuelle und historische Kriege im Osten denken lassen: an die Mongolen ebenso wie an die wilden Horden des lupenreinen Demokraten Wladimir. Die anfangs noch burlesk wirkenden Kämpfe verändern ihre Wirkung; manchmal marschiert das Ensemble wie eine Armee, obwohl weiterhin in vielen Bildern Volkstänze zitiert werden. Doch Kampf, Tanz und Marsch sehen oft ein wenig tölpelhaft aus. Marionetten sind es, die da lustig über die Bühne tanzen, Automatenmenschen, Hampelmänner – Clowns. Als im Bühnenhintergrund ein riesiger roter Vorhang sichtbar wird, fallen auch die Girlanden aus Glühbirnen auf, die von der Decke hängen: Das Ensemble befindet sich in einem stilisierten Zirkuszelt.

Der Zirkus ist die Metapher für unsere Welt. Drei Clowns führen einen Gefangenen ab – und schneiden ihm die Kehle durch. Immer wieder gibt es Hinrichtungen, Morde aus dem Hinterhalt. Doch immer wieder stehen die Getöteten wieder auf und reihen sich erneut ein in die Riege der fröhlichen Mordgesellen. Es ist ein Totentanz im Zirkuszelt. Schüsse, Messerstechereien und das Durchschneiden der Kehlen werden pantomimisch, fast stilisiert dargestellt. Jeder Realismus wird vermieden. Das nimmt der Aussage ein wenig die Dringlichkeit. Und doch begreifen wir: Shechter hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Fröhliche Clowns massakrieren einander, und die Toten kämpfen weiter, nicht weniger brutal als ihre Mörder zuvor. Die Bilder von Gewalt sind zu einem normalen Begleiter unseres Alltags geworden. Wir nehmen das Grauen noch wahr, aber es berührt uns nicht mehr. Wir tanzen weiter, stolpern im immer gleichen Trott durch den Alltag.

Der immer gleiche Trott ist eine Schwäche der Choreographie, die durchaus mitreißt, aber aufgrund allzu häufiger Wiederholungen ähnlicher Bilderfindungen nicht zu den stärksten des Choreografen zählt. Im Vergleich zu Shechters großen Choreografien wie Political Mother, Sunoder Grand Finalesteht ein eher kleines Ensemble auf der Bühne, und es fehlen die totalitären, faschistoiden Massenchoreografien. Trotzdem gibt es sowohl die brutale als auch die clowneske, comicartige Facette. Da wanken drei Riesen-Monster über die Bühne, die Bewegungen der Figuren könnten aus einem Comic stammen – aber dieser Comic ist böse. Grenzenloser Jubel brandet auf, wenn die Feinde hingerichtet werden. Insbesondere der Höhepunkt der Aufführung hat mit einem Comic nichts mehr zu tun: Zuckende Körper zu einem rhythmisch komponierten Maschinengewehrfeuer fügen sich zu einer grandiosen Choreografie zusammen, wobei das Gefühl der Bedrohung gesteigert wird durch die permanente Wiederholung immer gleicher dunkler, grollender Soundschleifen. Zum Schluss scheint nicht Feuer, sondern Versöhnung zu drohen. Eine Frau nähert sich liebevoll einem Mann. Sie schmatzt ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Doch dann, mit einer schnellen, abrupten Bewegung, erschießt sie ihn von hinten. Ein Kuss, ein Schuss – und Exitus.

The Fix, der zweite Teil des Abends, der als Antwort auf die Pandemie entstand, greift Bewegungen aus Clowns auf, aber sie werden mit anderer Bedeutung aufgeladen. Schläge gibt es auch hier – aber sie dienen der Befreiung von Aggression, Machtspielen und – vielleicht – auch der Gefangenschaft durch die Krankheit. Kann es denn sein, das Shechter so etwas wie Liebe choreographiert? Umklammerungen, Umarmungen waren lange verboten. Die Performerinnen und Performer zelebrieren sie, aber noch ist das alles nicht wirklich harmonisch. Die Choreografie ist ruhiger, die musikalischen Rhythmen sind es auch. Tänzerisch ist das nicht weniger anspruchsvoll: Partiell bewegen sich die Ensemble-Mitglieder wie in Zeitlupe; die Knie gebeugt, wiegen sie ihre Oberkörper hin und her, drücken Schmerz aus – und finden zum harmonischen Ausgleich zurück. Diese zeitlupenartigen Bewegungen könnten etwas Kontemplatives haben, wäre da nicht nach wie vor diese schnarrende, laute Shechter-Musik, die in Wellen an- und abschwillt. Die Bedrohung ist ja noch nicht vorüber: Ein Tänzer beginnt laut zu schreien.

Plötzlich stoppt die Musik. Eine der Performerinnen greift zu einem Saiteninstrument und zupft eine unendlich zarte, einschmeichelnde Weise. Sie sitzt auf den Knien eines ihrer Kollegen und spielt auf einem altmodischen Instrument – verzückt entdeckt man die Minne des 21. Jahrhunderts. Nach und nach formiert sich das übrige Ensemble zu einer Art modernem Gesellschaftstanz dazu; man umarmt einander, zu zweit, zu dritt, alle zusammen. Es ist das Bild unserer Tage: die Erlösung von der Isolation, in die uns die Pandemie getrieben hat - auch in der Krankheit.

Der schreiende kranke Mann wird von den sechs übrigen Performern festgehalten, beruhigt und gepflegt. Der Einzelne wird getragen von der Gruppe. Fürsorglich, liebevoll wird der Erkrankte zu seinem Ruheplatz geführt, an dem er genesen wird. Endlich ist Nähe wieder möglich, man darf einander umarmen. Auch Teile des Publikums bekommen ihren Hug. So zärtlich haben wir Hofesh Shechter noch nicht erlebt. Mag es auch nicht seine stärkste Arbeit sein: Standing Ovations gab es in Recklinghausen trotzdem.